Schneller Wandel im Kristall
Wie in einem Ultrahochgeschwindigkeitsfilm lässt sich ein Phasenübergang im Atomgitter verfolgen.
Wenn eine Fensterscheibe bei zunehmender Sonnenstrahlung einen Teil davon verstärkt reflektiert und damit das Aufheizen eines Zimmers verhindert, dann ist dafür eine Beschichtung verantwortlich. Diese kann aus Vanadiumdioxid (VO2) bestehen. Das Material wechselt bei intensiver Lichteinstrahlung seine Kristallstruktur, wobei sich unter anderem seine Reflexionseigenschaften ändern. Eine Forschergruppe um Julia Stähler vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft hat zusammen mit Kollegen von der Vanderbilt-Universität in den USA diesen Phasenübergang mit höchster zeitlicher Auflösung untersucht.
Abb.: Die Schwingungseigenschaften der Atome im Gitter (Kugeln) werden bestimmt durch die sie umgebenen Elektronenwolken (blau). Werden diese durch Absorption von Licht genügend stark angeregt (rot), so können die Atome der Ursprungsschwingung (blaue Wellenform links) nicht mehr folgen, und die Reflektivität ändert sich. (Bild: FHI-MPG, J. Stähler)
Vanadiumdioxid ist seit langem für seine interessanten Eigenschaften bekannt. Es ist ein Kristall, der bei Raumtemperatur durchsichtig und elektrisch isolierend ist. Erwärmt man ihn, so tritt bei 67 °C ein Phasenübergang ein: Der Kristall wird zu einem elektrischen Leiter und reflektiert Licht stärker. Schon länger bekannt ist, dass man diesen Phasenübergang auch mit intensivem Licht einleiten kann. Diese Eigenschaften machen VO2 für praktische Anwendungen interessant. Als Beschichtung mit unterschiedlich starker Reflektivität wird es bereits genutzt. Denkbar wäre zudem ein Einsatz als Schalter in einer zukünftigen elektro-optischen Elektronik oder als Speichermedium, das sich sehr viel schneller beschreiben und lesen ließe als heutige Magnetspeicher.
„In unseren Experimenten wollen wir verstehen, wie dieser Phasenübergang abläuft“, erklärt Julia Stähler, die am Fritz-Haber-Institut die Forschungsgruppe Elektronendynamik leitet. Die Kristallstruktur von VO2 wurde bereits ausgiebig mit unterschiedlichen Methoden untersucht. Mit Röntgen- und Elektronenbeugung hatte man herausgefunden, wie sich das Atomgitter beim Phasenübergang nach der Absorption von Licht verändert. Es wechselt von einer komplexen, monoklinen Struktur in eine einfachere tetragonale Struktur. Dieser Übergang in den metallischen Zustand vollzieht sich innerhalb von einigen hundert Femtosekunden und ist erst in der Größenordnung von Nanosekunden abgeschlossen.
An einem solchen Stellungswechsel sind jedoch nicht nur die Atome auf ihren Gitterplätzen beteiligt. Der jeweilige Zustand dieser Elektronen bestimmt nicht nur mit, wie sich die Atome im Gitter anordnen, sondern hat auch großen Einfluss auf die optischen und elektrischen Eigenschaften des Materials. Im Fall des VO2 beeinflussen sich die Elektronen auch gegenseitig. Physiker sprechen von einer starken Korrelation der Elektronen.
Die internationale Forschergruppe fragte sich nun, welche der beiden Komponenten den Phasenübergang einleiten, die Atome oder die Elektronen. Die Herstellung der hierfür notwendigen, hochwertigen VO2-Schichten übernahmen Kollegen um Richard Haglund an der Vanderbilt University in Nashville, USA. Mit Hilfe von Pump-Probe-Experimenten am FHI in Berlin wurde dann die Ursache für den Phasenübergang gesucht. Stähler und Kollegen beobachteten in ihrem Experiment, dass der Phasenübergang in weniger als 80 Femtosekunden seinen Anfang nimmt. „Anstatt dabei die Positionen der Atome zu bestimmen, beobachten wir ihre Anordnung indirekt, indem wir mit dem zweiten Probepuls die kollektiven Schwingungen des Kristallgitters messen, die durch die erste Laseranregung ausgelöst wurden“, beschreibt Simon Wall, der die Messungen maßgeblich durchführte. Die Forscher gewinnen damit Einblick in die originären Prozesse direkt nach der ultraschnellen Anregung, indem sie die Gitterschwingungen beobachten, nicht das Gitter selbst.
Bislang gab es Hinweise darauf, dass erst die Bewegung der Atome den Phasenübergang von einer Kristallstruktur zur anderen auslöst. Die neuen Experimente belegen hingegen, dass der Laserpuls die Elektronenwolke so gravierend umverteilt, dass sich nicht nur die Atome auf die andere Kristallstruktur zubewegen. „Darüber hinaus verschwinden die charakteristischen Gitterschwingungen der Ursprungsstruktur bereits bevor sich die Atome nennenswert verschoben haben“, unterstreicht Wall. Das System der leichten Elektronen reagiert also unmittelbar, sprich im Bereich von Femtosekunden, auf den Laserpuls, während die erheblich schwereren Atome träge und zeitlich verzögert nachziehen.
Mit Experimenten dieser Art lassen sich wie in einem Ultrahochgeschwindigkeitsfilm neue Informationen gewinnen. „Unsere Forschung zielt auf ein grundlegendes Verständnis komplexer Phänomene in Festkörpern hin, um darauf aufbauend die Entwicklung von Materialien mit neuen und optimierten elektronischen Eigenschaften voranzutreiben“, erklärt Stähler.
MPG / OD