05.04.2019

Schwarmbildung leicht gemacht

Mikro-Schwimmer zeigen überraschend einfach koordiniertes Verhalten.

Vögel, Fische und Bakterien bilden häufig Gruppen oder Schwärme. Dieses kollektive Verhalten erfordert die permanente und wechselseitige Anpassung der Bewegungen aller Gruppenmitglieder. Oft ist dabei unklar, welche Informationen aus ihrer Umgebung Individuen dabei nutzen; neben optischen und akustischen Reizen können auch Strömungswiderstände oder chemische Botenstoffe eine Rolle spielen. Physiker der Universität Konstanz haben nun anhand von Experimenten mit künstlichen Mikroschwimmern gezeigt, dass es für die Bildung einer stabilen Gruppe völlig ausreicht, wenn jedes Individuum die Zahl anderer Gruppenmitglieder innerhalb des eigenen Gesichtsfelds abschätzt und seine Geschwindigkeit daraufhin anpasst. Neben einem besseren Verständnis kollektiver Phänomene lassen sich diese Erkenntnisse auch für autonome Systeme verwenden. 

Abb.: Je nachdem, ob sich viele oder wenige Nachbarn im Sichtfeld (rot) der...
Abb.: Je nachdem, ob sich viele oder wenige Nachbarn im Sichtfeld (rot) der bekappten Glaskügelchen befinden, werden diese mit einem fokussierten Laserstrahl beleuchtet oder nicht. So lassen sich die Auswirkungen visueller Informationen auf das kollektive Verhalten von schwimmenden Mikroteilchen untersuchen. Bild (Bild: N. Furlani)

Die Organisation einzelner Individuen in Form eines kompakten Schwarms oder einer Gruppe spielt eine zentrale Rolle, um sich vor Fressfeinden zu schützen, bei der Suche nach Futter oder um große Distanzen effizient zurückzulegen. Um die Entstehung eines Schwarms prinzipiell zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, welche Informationen ein Individuum aus der Umgebung wahrnimmt und wie es seine Bewegung daraufhin anpasst. Das Vicsek-Modell geht davon aus, dass jedes Gruppenmitglied seine Fortbewegungsrichtung an die der umgebenden Teilchen angleicht. Zusätzlich muss eine Anziehung zwischen den Gruppenmitgliedern existieren. Fehlt eine dieser Bedingungen (Ausrichtung oder Anziehung), wird der Schwarm instabil und löst sich auf.

Clemens Bechinger, Professor am Fachbereich Physik der Universität Konstanz, hat mit seinen Mitarbeitern nun in Experimenten eine deutlich einfachere und bemerkenswert robuste Regel entdeckt, mit der Individuen spontan eine stabile Gruppe bilden. Dabei bestimmt jedes Teilchen die Zahl der Nachbarn innerhalb seines nach vorne gerichteten Gesichtsfeldes. Liegt die Zahl über einem bestimmten Schwellwert, so beginnt das Teilchen, nach vorne zu schwimmen, andernfalls bewegt es sich rein zufällig. Entscheidend dabei ist, dass das Teilchen gar nicht genau wissen muss, wo sich seine Nachbarn aufhalten, es reicht völlig aus, wenn sie sich irgendwo in seinem Gesichtsfeld befinden.

Anstelle von lebenden Organismen verwenden die Physiker künstlich hergestellte Mikroschwimmer, die in einer Flüssigkeit schweben. Diese bestehen aus Glaskügelchen von einigen Mikrometern Durchmesser, die halbseitig mit einer dünnen Kappe Kohlenstoff beschichtet sind. Werden diese mit einem fokussierten Laserstrahl beleuchtet, wird das Licht nur von der dunklen Kappe absorbiert und das Teilchen erhitzt sich ungleichmäßig. Der Temperaturgradient erzeugt eine Flüssigkeitsströmung an der Teilchenoberfläche, die das Teilchen in eine bakterienähnliche Schwimmbewegung versetzt. Die Situation ist vergleichbar mit einer rotierenden Schiffsschraube, die Wasser nach hinten drückt und dadurch das Boot nach vorne bewegt.

Um die Mikroschwimmer mit einem Gesichtsfeld auszustatten, verwenden die Wissenschaftler einen Trick: Mit Hilfe eines Computers werden die Positionen und Orientierungen aller Glasteilchen laufend überwacht. Damit lassen sich die Anzahl der Nachbarn jedes Teilchens in einem festgelegten Winkelbereich, welcher dem Gesichtsbereich entspricht, bestimmen. Übersteigt die Zahl einen Schwellwert, wird das entsprechende Teilchen von einem fokussierten Laserstrahl erfasst und kurz beleuchtet, so dass es eine Schwimmbewegung ausführt. Bleibt die Zahl der Teilchen dagegen unter dem Schwellwert, findet keine Beleuchtung statt, und es führt stattdessen eine ungerichtete, diffusive Bewegung aus. Dadurch, dass die jeweiligen Informationen mehrmals pro Sekunde aktualisiert werden, reagiert jeder Mikroschwimmer dynamisch auf kleinste Änderungen seiner Umgebung, ganz ähnlich wie ein Fisch in einem Schwarm.

Mit Hilfe dieser künstlichen Organismen können die Forscher die Informationen, die ein Individuum aus seiner Umgebung wahrnimmt, exakt bestimmen und beobachten, wie sich Wahrnehmungsveränderungen auf deren kollektives Verhalten auswirken. Je nach Wahl der Breite des Gesichtsfeldes und dem Wert der Wahrnehmungsschwelle ist die Gruppenbildung stärker oder weniger ausgeprägt. Tatsächlich lässt sich mit einem solch einfachen Modell sogar verstehen, warum Pflanzenfresser mit einem breiten Gesichtsfeld nur dann in Kontakt mit ihrer schützenden Gruppe bleiben, wenn sie besonders aufmerksam ihre Nachbarn im Auge behalten, also ihre Wahrnehmungsschwelle stark absenken. Ebenfalls verständlich wird im Rahmen des Modells, warum das enge Gesichtsfeld von Raubtieren von Vorteil ist, die Gegenwart von Beutetieren über lange Distanzen zu ermitteln.

Eine weitere wichtige Erkenntnis der Wissenschaftler ist, dass gruppenbildende Individuen prinzipiell weder ihre Geschwindigkeitsrichtung anpassen müssen, noch Informationen bezüglich der Bewegungsrichtung ihrer Nachbarn benötigen. Aus regeltechnischer Sicht ist dies äußerst vorteilhaft, da dann nur geringe sensorische und kognitive Ressourcen aufgewendet werden müssen. Dieser Aspekt ist auch für zukünftige Anwendungen von Nutzen, wo Millionen autonomer Mikroroboter mit limitierter Rechenkapazität komplexe Aufgaben erfüllen sollen. Damit dies gelingt, müssen sie sich untereinander organisieren und ihr Verhalten abstimmen. Nur dadurch können auch unvorhergesehene Situationen erfolgreich gemeistert werden, ähnlich wie ein Fischschwarm der einem Angreifer ausweicht.

U. Konstanz / DE
 

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