13.01.2023 • Biophysik

Schwarmintelligenz als Folge physikalischer Mechanismen

Schwärme synthetisch hergestellter Brownscher Mikroschwimmer erwecken den Eindruck spontaner Entscheidungen.

Scheinbar spontan koordiniertes Schwarmverhalten in großen Tierverbänden ist ein faszinierendes und auffälliges kollektives Phänomen. Experimente von Forschern der Uni Leipzig an laserbetriebenen synthetischen Mikroschwimmern zeigen jetzt, dass vermeintliche Schwarmintelligenz zuweilen auch die Folge simpler und generischer physikalischer Mechanismen sein kann. Das Team um Frank Cichos und Klaus Kroy fand heraus, dass Schwärme synthetisch hergestellter Brownscher Mikroschwimmer den Eindruck erwecken können, dass sie sich spontan entscheiden, ihren Zielpunkt zu umkreisen, statt diesen direkt anzusteuern.

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Abb.: Das Foto zeigt die im Experi­ment für die Koordi­nation von Schwärmen aus synthe­tischen Brownschen Mikro­schwimmern verwendete Laser­optik. (Bild: X. Wang, U. Leipzig)

„Die wissenschaftliche Erforschung von Herden- und Schwarmverhalten basiert in der Regel auf Feldbeobachtungen. In solchen ist es meistens schwierig, die inneren Zustände der Herdentiere zuverlässig zu erfassen“, erklärt Kroy. Daher stütze man sich in der Interpretation der Beobachtungen häufig auf plausibel klingende Vermutungen darüber, welche individuellen Verhaltensregeln für die beobachteten komplexen kollektiven Verbände nötig sind. Deshalb suchten und fanden die Forscher ein experimentelles Modellsystem von Mikroschwimmern, das Eigenschaften natürlicher Schwarmintelligenz hervorbringt, aber gleichzeitig eine vollständige Kontrolle über die internen Zustände, Strategien und Wahrnehmungs-Reaktions-Schaltkreise der Individuen bietet.

Dank einer ausgeklügelten Laserheizung können sich die nur unter dem Mikroskop sichtbaren kolloidalen Schwimmer in einem Wasserbehälter einerseits durch eine Art thermophoretischen Raketenantrieb aktiv selbst fortbewegen, während ihre Fahrt andererseits durch die Brownsche Molekularbewegung permanent in zufälliger Weise gestört wird. „Der experimentelle Aufbau bietet abgesehen von der in der Mikrophysik allgegenwärtigen Brownschen Zufallsbewegung eine vollständige Kontrolle über die physikalischen Parameter und Navigationsregeln der einzelnen Kolloide und ermöglicht Langzeitbeobachtungen an Schwärmen variabler Größe“, sagt Cichos.

Schon mit einer sehr einfachen und generischen Navigationsregel, die von allen Schwimmern identisch befolgt wird, ergebe sich ein überraschend komplexes Schwarmverhalten, so Cichos. Zielen beispielsweise alle Schwimmer auf denselben festen Raumpunkt, kann sich anstelle eines dichten Pulks auch eine Art Karussell bilden. Die Schwimmer umkreisen dann ihr Attraktionszentrum auf unterschiedlich hohen Kreisbahnen. Die einzige dazu nötige „intelligente“ Verhaltensregel ist, dass der Raketenantrieb mit einer gewissen Zeitverzögerung auf die Umgebungswahrnehmung reagiert, was in natürlichen Schwarmphänomenen vom Mückentanz bis zum Straßenverkehr sowieso meist unvermeidlich sein dürfte.

Es stellt sich heraus, dass ein derartiger „Spätzünder-“ oder „Schrecksekunden-Effekt“ allein ausreicht, um komplexe dynamische Muster zu bilden, wie etwa das erwähnte Karussell. „Physikalisch gesprochen, kann jeder einzelne Schwimmer spontan die radiale Symmetrie des Aufbaus brechen und in Kreisbewegung übergehen, wenn das Produkt aus Verzögerungszeit und Schwimmgeschwindigkeit nur groß genug wird“, erläutert Kroy. Dagegen seien die Umlaufbahnen größerer Schwärme und deren Synchronisation und Stabilisation von weiteren Details abhängig, wie etwa von den sterischen, phoretischen und hydrodynamischen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Schwimmern.

Da alle Wahrnehmungs-Reaktions-Wechselwirkungen in der lebenden Welt zeitverzögert geschehen, sollten diese Erkenntnisse auch das Verständnis dynamischer Musterbildung in natürlichen Schwarm-Ensembles fördern. Die Forscher wählten für ihr Experiment bewusst primitive und einheitliche Navigationsregeln. Deshalb konnten sie eine stringente mathematische Beschreibung der beobachteten Phänomenologie entwickeln. In der Analyse der dazu verwendeten verzögerten stochastischen Differentialgleichungen erwies sich die durch die Zeitverzögerung bedingte effektive Synchronisation der Schwimmer mit ihrer eigenen Vergangenheit als Schlüsselmechanismus für die spontane Kreisbewegung.

Die Theorie erlaubt es, die experimentellen Beobachtungen weitgehend zu berechnen. „Alles in allem ist es somit gelungen, ein Labor für Schwärme von Brownschen Mikroschwimmern zu schaffen. Es kann als Baukasten für zukünftige systematische Untersuchungen von zunehmend komplexerem und möglicherweise noch unbekanntem Schwarmverhalten dienen. Und vielleicht erklärt es auch, warum Hundewelpen bei der Fütterung häufig den Futternapf umkreisen“, resümiert Cichos.

U. Leipzig / RK

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