Schwerefeld im Kristall
Quantenanomalie erstmals experimentell im Kristall nachgewiesen.
In der Physik spielen Messgrößen wie Energie, Impuls oder elektrische Ladung, welche ihre Erscheinungsform zwar ändern können, aber niemals verloren gehen oder niemals aus dem Nichts entstehen, eine zentrale Rolle. Diese Messgrößen bestimmen, welche physikalischen Prozesse in unserem Universum möglich sind. In bestimmten Situationen jedoch, nämlich genau dann, wenn man von der klassischen Physik zu einer nicht-klassischen Betrachtung übergeht, sind diese Größen nicht mehr zwangsläufig erhalten. Man spricht dann von Quantenanomalien. Eine dieser Quantenanomalien, die etwa zur Beschreibung von Neutronensternen von theoretischen Physikern angedacht wurde, aber noch nie experimentell nachgewiesen werden konnte, ist die Schwerkraft-Quantenanomalie.
Abb.: Forschern ist es gelungen, ein ausreichend starkes Schwerefeld, welches eigentlich nur weit draußen im Universum existiert, in einem Kristall nachzuempfinden. (Bildmontage: R. Strasser, K. Scherer, M Büker)
Forschern am IFW Dresden und weiterer Institute ist es nun erstmals gelungen, diese Quantenanomalie experimentell in Kristallen nachzuweisen. Dabei konnten sie eine große experimentelle Schwierigkeit umgehen: Ausreichend starke Schwerefelder zur Beobachtung der Schwerkraft-Quantenanomalie, und die damit einhergehende, von Einstein vorausgesagte Krümmung der Raumzeit, liegen zwar bei Neutronensternen oder in der Nähe Schwarzer Löchern vor, können aber nicht im Labor auf der Erde realisiert werden. Somit war die Messung der theoretisch vorausgesagten Schwerkraft-Quantenanomalie bisher unmöglich.
Die Forscher haben einen unerwarteten Ausweg aus diesem experimentellen Dilemma gefunden: In ihrem Experiment nutzten sie die Erkenntnis, dass sich unter bestimmten Umständen in Kristallen ein Schwerefeld durch einen Temperaturunterschied nachahmen lässt. So können Messungen in Gravitationsfeldern nachgestellt werden, ohne dass dafür eine Krümmung der Raumzeit im Labor erzeugen werden müsste. Neuartige Materialien, Weyl-Halbmetalle, stellen für die Forscher eine ideale Messplattform dar. In diesen Materialien gibt es bestimmte Elektronen (Weyl-Fermionen), die aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften für das Forscherteam beim Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie von besonderem Interesse waren.
Diese Elektronen haben zwei verschiedene Chiralitäten. Eine Besonderheit dieser Materialien besteht darin, dass die Energie und der Impuls der Elektronen eines Drehsinns jeweils eine stets erhaltene Messgröße darstellt. So kann weder im linksdrehenden noch im rechtsdrehenden Elektronenreservoir Energie oder Impuls verloren oder hinzugewonnen werden – es sei denn es liegt eine Quantenanomalie vor. Ein solches, neuartiges Material setzten die Forscher im Experiment einem Temperaturunterschied aus, der in gewöhnlichen elektrischen Leitern einen Stromfluss verursacht.
In dem untersuchten speziellen Halbmetall-Material darf nun allerdings gerade kein Stromfluss zustande kommen, da dies Ausdruck der stets erhaltenen Energie und des stets erhaltenen Impulses der beiden Elektronenreservoirs ist. Als die Forscher zusätzlich noch einen Temperaturunterschied über den Kristall erzeugten und in gleicher Richtung ein Magnetfeld anlegten, beobachten sie jedoch einen Stromfluss, der mit ansteigendem Magnetfeld weiter zunahm. Dieser resultierte daraus, dass die eigentlich stets bewahrte Energie und der stets bewahrte Impuls der Elektronen eines Drehsinn nun nicht mehr erhalten war und linksdrehende Elektronen beispielsweise mehr Energie und einen größeren Impuls hatten als rechtsdrehende Elektronen. Dieses werten die Forscher als ersten experimentellen Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie.
Den Forschern ist es somit erstmals im Experiment gelungen, eine Quantenanomalie unter Beteiligung eines simulierten Schwerefeldes zu beobachten. „Extrem spannend ist, dass wir mit Hilfe dieses Experiments aus dem Bereich der Festkörperphysik eine physikalische Fragestellung beantworten konnten, die auch in vielen anderen Bereichen der Physik außerhalb der Materialforschung eine wichtige Rolle spielt“, sagt Anna Niemann, Doktorandin am IFW Dresden. So seien die Ergebnisse dieser Studie relevant für Astrophysiker um Prozesse im frühen Universum aufzuklären bis hin zu Teilchenphysiker um mögliche Teilchenzerfälle zu verifizieren.
IFW Dresden / JOL