Seuchen auf Reisen
Theoretische Physiker haben untersucht, wie das menschliche Reiseverhalten die Ausbreitung von Seuchen beeinflusst.
Forschern des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) in Göttingen, der Universität Göttingen, der Northwestern University und des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA ist es erstmals gelungen, das individuelle Bewegungs- und Reiseverhalten einzelner Personen in ihren mathematischen Modellen zu berücksichtigen. Die neuen Rechnungen zeigen nicht nur, dass ältere Modelle die Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich überschätzt hatten. Auch die bisher bekannten Kriterien für den globalen Ausbruch einer Krankheit müssen erweitert werden. Die Studie wurde von der American Physical Society ausgewählt, in der Erstausgabe ihres neuen Journals Physical Review X zu erscheinen.
Abb.: Mobilitätsnetzwerke bestimmen die Ausbreitung von Epidemien. (Bild: MPIDS)
Tritt eine erkrankte Person einen Langstreckenflug an, ergibt sich für die Ansteckungswahrscheinlichkeit mit einer Krankheit ein anderes Bild, als wenn sie lediglich ins Nachbardorf fährt. Ältere Modelle umgingen dieses Problem. Sie nahmen vereinfachend an, dass sich eine Infektion nach den Gesetzen der Diffusion ausbreitet – also ähnlich wie ein eingefärbtes Gas, das aus einem Behälter entweicht. Doch selbst jüngere Ansätze, die interkontinentale Reisen einbeziehen, bilden nicht alle Aspekte menschlichen Reiseverhaltens ab. Denn die Mitglieder einer Population wurden bisher nicht als Individuen mit eigenen Reisezielen betrachtet. Stattdessen nahmen die Modelle vereinfachend an, dass im Laufe der Zeit jede Person alle erreichbaren Orte aufsucht.
Neue Studien, die die Grundlage der jüngsten Berechnungen bilden, untermauern ein anderes Verhalten nun mit Daten. Die meisten Menschen suchen nur wenige Orte außerhalb der eigenen Wohnung regelmäßig auf, etwa den Arbeitsplatz, den nahe gelegenen Supermarkt oder den Kindergarten. Ein Besuch etwa bei Verwandten im nächsten Bundesland findet deutlich seltener statt, die Fernreise nach Mexiko ist eine Ausnahme. Und die allermeisten Ziele steuern die meisten Menschen nie an. Für jedes Individuum ergibt sich so ein eigenes Mobiltätsnetzwerk, das sich aus der begrenzten Anzahl seiner Reiseziele zusammensetzt. In ihren Modellen setzten die Forscher nun individuelle sternförmige Netzwerken an: Ausgangspunkt einer jeden Reise ist die eigenen Wohnung. Vor der Rückkehr dorthin wird nur ein Ziel angesteuert. Der neue Ansatz liefert ein System von Gleichungen, welches die Wissenschaftler in Computersimulationen untersuchen konnten.
Die Rechnungen zeigen, dass mit zunehmender Mobilität der Individuen die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit nicht – wie bisher angenommen – immer weiter anwachsen kann, so die Forscher. Schließlich verändere ein höheres Reiseaufkommen nicht die grundsätzliche Beschaffenheit der Netzwerke. Ältere Modelle hatten deshalb die Schnelligkeit der Ausbreitung von Seuchen erheblich überschätzt.
Neue Erkenntnisse ergaben sich auch für die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Epidemie von einer Population auf eine weitere überspringt – also sich etwa von einem Kontinent auf den nächsten ausbreitet. Wie die Forscher berichten, spielt nicht etwa die Häufigkeit von Fernreisen eine entscheidende Rolle, sondern ihre Dauer. Erst wenn die mittlere Dauer der Abwesenheit einen bestimmten Wert überschreitet, kann aus der Epidemie eine globale Pandemie werden.
Mit dieser Forschungsarbeit startet die American Physical Society (APS) in eine neue Ära des Open-Access-Publizierens. Die Studie wurde von der APS ausgewählt, als erster Artikel in der Erstausgabe ihres neuen Open-Access Journals Physical Review X zu erscheinen. Im Unterschied zu traditionellen Wissenschaftszeitschriften werden hier die wissenschaftlichen Arbeiten weltweit allen Lesern per Internet kostenfrei zugänglich gemacht. Die Arbeit wird zusammen mit vier weiteren Artikeln in der Erstausgabe publiziert, da die Wissenschaftler in ihr mit Methoden der theoretischen Physik neue Erkenntnisse zur Ausbreitung von Seuchen gewonnen haben.
MPIDS / PH
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