Simulation von Supraleitern
Neue Methode im Grenzgebiet von Mathematik und Physik vereinfacht Simulation supraleitender Materialien.
Supraleiter – Materialien, durch die Elektrizität völlig widerstandsfrei fließen kann – sind für viele Hochtechnologie-Anwendungen von zentraler Bedeutung, seien es Quantencomputer, Medizintechnik oder Hochleistungs-Energieanwendungen. Wissenschaftler aus Saarbrücken, Eindhoven und Köln haben nun eine Methode im Grenzgebiet von Mathematik und Physik entwickelt, mit der die Simulation solcher Materialien enorm vereinfacht werden kann.
Versuch und Irrtum: Die Methode war über Jahrtausende das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, dass Menschen neue Stoffe erfunden haben. Im Grunde genommen funktioniert die moderne Materialentwicklung heute noch genauso, nur dass die Möglichkeiten unendlich viel größer geworden. Wer heute ein neues Material designen möchte, braucht Unmengen an Geld, Fachleuten und Rechenpower. Zehntausende Varianten aus denselben Grundstoffen, zusammengesetzt aus sich minimal voneinander unterscheidenden Kombinationsmöglichkeiten, gilt es zu berechnen, um die passenden Eigenschaften herauszufinden. Diese Herausforderung bringt auch den stärksten Supercomputer an seine Grenzen.
Zum Glück gibt es Mathematiker und Physiker, die sich nicht nur ums Material an sich kümmern, sondern auch um die zugrundeliegende Mathematik, die es ermöglicht, solche hochkomplexen Probleme deutlich schneller und effizienter zu lösen. Zwei Mathematiker aus dem Saarland, Andreas Buchheit und Torsten Keßler, haben vor einem Jahr bereits eine Methode entwickelt, wie sie so langreichweitige Wechselwirkungen effizient berechnen können. Darunter versteht man das Phänomen, dass in einem System jedes einzelne Teilchen mit allen anderen Teilchen in Wechselwirkung steht. Möchte man nun am Computer präzise simulieren, wie sich ein System verhält, muss man die Wechselwirkung jedes einzelnen dieser Teilchen mit allen anderen Teilchen möglichst gut vorhersagen können.
Dabei ist es egal, ob das System nun eine Kaffeetasse aus 1023 Atomen ist, die zu Boden fällt, eine Galaxie aus hunderten Milliarden Himmelskörpern, die sich durchs Universum bewegt oder auch ein neuer, supraleitender Werkstoff, dessen 1023 Elektronen es ermöglichen, dass Strom ohne jeglichen Widerstand durch ihn hindurchfließen kann.
Genau einen solchen Supraleiter haben sich Buchheit, Keßler, sowie Peter Schuhmacher und Benedikt Fauseweh vom Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln angeschaut. Genauer gesagt, haben sie mithilfe der Methode von Keßler und Buchheit aus dem vergangenen Jahr simuliert, wie sich ein supraleitendes Material auf atomarer Ebene verhält. „Denn die genaue Funktionsweise von Supraleitern ist nach wie vor nicht genau verstanden, obwohl sie schon seit über hundert Jahren bekannt sind“, erklärt Buchheit.
Angefangen hat im Jahr 1911 alles mit der Entdeckung, dass bestimmte Metalle bei extrem tiefen Temperaturen, nahe des absoluten Nullpunktes von rund minus 273 Grad Celsius, Eigenschaften aufweisen, die sie oberhalb dieser Temperaturen nicht haben. Sie leiten Strom widerstandsfrei. Genauso verhalten sich auch so genannte Hochtemperatur-Supraleiter, die erst in den 1980er Jahren entdeckt wurden. „Hochtemperatur“ ist dabei aus Laiensicht mit Vorsicht zu genießen, denn üblicherweise handelt es sich hier nicht um angenehme 30 Grad am Badestrand, vielmehr sprechen Physiker von Hochtemperatur-Supraleitern bei Materialien, die schon bei minus 196 Grad Celsius supraleitend werden. Warum dies bei diesen Hochtemperatur-Supraleitern der Fall ist, weiß die Wissenschaft noch nicht genau.
Hier kommt nun die Arbeit von Buchheit und seinen Kollegen ins Spiel. Die vier Wissenschaftler dachten sich, dass sie die Eigenschaften dieser Hochtemperatur-Supraleiter möglicherweise besser theoretisch beschreiben und am Computer simulieren können, wenn sie die vor einem Jahr publizierte Methode anwenden, mit deren Hilfe die langreichweitige Wechselwirkung der einzelnen Teilchen des Systems „Supraleiter“ berechnet werden kann.
„Im Supraleiter sind es die einzelnen Elektronen, die miteinander über lange Reichweiten in Wechselwirkung miteinander treten“, erläutert Buchheit. Elektronen bilden im Supraleiter bei extrem niedrigen Temperaturen einen ganzen Cluster mit identischen Eigenschaften, statt, wie im nicht supraleitenden Zustand, sich individuell zu verhalten, so dass die elektrische Leitfähigkeit irgendwann zum Erliegen kommt. „Im Supraleiter kombinieren sich Cooper-Paare zu größeren Komplexen, einem Bose-Einstein-Kondensat“, erläutert Buchheit. Diese „Elektronenhaufen“ verhalten sich wie ein einziges Teilchen. Während ein einzelnes Elektron leicht gestoppt werden kann, bewegt sich dieser Elektronenhaufen widerstandsfrei. Damit kann auch der Strom völlig widerstandsfrei fließen.
„Verpasst man nun einem solchen Bose-Einstein-Kondensat einen Tritt mit einem Laserstrahl, fängt es an zu schwingen“, führt Keßler aus. „Diese Oszillation können wir messen, und so erhalten wir eine Information darüber, wie sich ein Supraleiter verhält.“ In aufwändigen Computersimulationen, die sie auf einem Supercomputer in Erlangen haben berechnen lassen und welche auf der Formel basieren, die Buchheit und Keßler vor einem Jahr publiziert haben, konnten die vier Wissenschaftler nun feststellen, dass durch die langreichweitigen Wechselwirkungen der Elektronen diese Oszillation stabilisiert wird.
Normalerweise hören die Elektronenhaufen im Supraleiter nach kurzer Zeit wieder auf zu schwingen, so dass der Zeitraum nur sehr kurz ist, in denen ihre Eigenschaften messbar sind. „Dadurch, dass der Zeitraum, in denen das Bose-Einstein-Kondensat stabil schwingt, viel länger ist, kann man viel genauere Untersuchungen anstellen, womit auch der technologische Nutzen steigt“, ergänzt Fauseweh. „Durch die langreichweitigen Wechselwirkungen eröffnen sich in der Theorie völlig neue Möglichkeiten, wie Elektronen sich zu Cooper-Paaren formieren – Möglichkeiten, die wir zuvor nicht für denkbar hielten“, so Buchheit über eine zentrale Erkenntnis ihrer Arbeit.
Der Clou ist, dass die Rechengeschwindigkeit unabhängig von der Anzahl an Teilchen wird. Das heißt, je größer ein System aus Teilchen ist, desto schneller läuft seine Berechnung mit der Formel der Saarbrücker Mathematiker im Vergleich zu einem herkömmlichen Algorithmus auf dem Supercomputer. Verdoppelt man die Anzahl der Teilchen, berechnet der Computer die Eigenschaften des Systems viermal so schnell wie üblich. Verzehnfacht man die Zahl der Teilchen, rechnet der Computer hundertmal schneller als mit herkömmlichen Algorithmen und so weiter. Bei einem System aus 1023 Teilchen, wie sie zum Beispiel in einem Supraleiter vorkommen, resultiert daraus ein Geschwindigkeitsvorteil, der kaum in Zahlen auszudrücken ist. Daher drückt es Keßler allgemeinverständlicher aus: „Dinge, die man früher auf dem Supercomputer berechnen musste, laufen damit auf einem gewöhnlichen Laptop.“
Die Methode könnte demnach der Festkörperphysik einen großen Schub geben. Denn mit ihrer Hilfe könnten Materialien jedweder Art in viel schnellerer Zeit und sehr viel kostengünstiger am Computer entwickelt werden, bevor Experimentatoren sie im Labor nachbauen, um nachzuprüfen, ob die Simulationen korrekt waren. Es könnten schlicht sehr viel mehr unterschiedliche Kombinationen berechnet werden in sehr viel kürzerer Zeit. Die Experimentalphysiker und Materialwissenschaftler müssten dann später vielleicht statt tausender nur noch einige wenige Materialproben im Labor auf ihre Eigenschaften hin prüfen.
UdS / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
A. A. Buchheit, T. Keßler, P. K. Schuhmacher & B. Fauseweh: Exact Continuum Representation of Long-range Interacting Systems and Emerging Exotic Phases in Unconventional Superconductors, Phys. Rev. Research 5, 043065 (2023); DOI: 10.1103/PhysRevResearch.5.043065 - Gruppe Rjasanow, FB Mathematik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
- Dept. of Mechanical Engineering, Eindhoven University of Technology, Niederlande
- Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Köln