Simulierte Bilder aus dem Kohlenstoffkern
Nukleonen ballen sich zu Gruppen aus je zwei Neutronen und zwei Protonen zusammen.
Wie sieht es im Innern eines Kohlenstoff-Atomkerns aus? Eine neue Studie des Forschungszentrums Jülich, der Michigan State University und der Universität Bonn gibt darauf erstmals eine umfassende Antwort. Die Forschenden haben darin sämtliche bekannten Energiezustände des Kerns simuliert. Darunter ist auch der rätselhafte Hoyle-Zustand. Gäbe es ihn nicht, würden Kohlenstoff und Sauerstoff im Weltall nur in winzigen Spuren vorkommen. Letztlich verdanken wir ihm damit auch unsere eigene Existenz.
Der Kern eines Kohlenstoffatoms besteht normalerweise aus sechs Protonen und sechs Neutronen. Doch wie sind diese genau angeordnet? Und wie ändert sich ihre Konfiguration, wenn man den Kern mit energiereicher Strahlung beschießt? Seit Jahrzehnten sucht die Wissenschaft nach Antworten auf diese Fragen. Denn sie könnten nicht zuletzt den Schlüssel zu einem Rätsel liefern: Warum findet sich im All überhaupt eine nennenswerte Menge Kohlenstoff ? Kurz nach dem Urknall gab es nämlich nur Wasserstoff und Helium. Alle schwereren Elemente wurden erst viele Milliarden Jahre später von alternden Sternen erbrütet. Bei immensem Druck und extrem hohen Temperaturen verschmolzen in ihnen Helium- zu Kohlenstoffkernen. Dazu müssen drei Helium-Kerne miteinander fusionieren. „Doch dass das passiert, ist eigentlich sehr unwahrscheinlich“, erklärt Ulf Meißner vom Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn und vom Institute for Advanced Simulation des Forschungszentrums Jülich. Grund: Die Helium-Kerne haben zusammengenommen eine viel höhere Energie als ein Kohlenstoffkern. Das sorgt aber nicht dafür, dass sie besonders bereitwillig fusionieren – im Gegenteil: Es ist, als wollten drei Personen auf ein Karussell aufspringen. Da sie aber viel schneller laufen, als sich das Karussell dreht, gelingt ihnen das nicht.
Schon in den 1950er Jahren postulierte der britische Astronom Fred Hoyle daher, dass sich die drei Heliumkerne zunächst zu einer Art Übergangszustand zusammenfinden. Dieser Hoyle-Zustand hat eine ganz ähnliche Energie wie die Heliumkerne. Um im Bild zu bleiben: Es ist eine schneller drehende Variante des Karussells, auf die die drei Passagiere daher problemlos aufspringen können. Wenn das geschehen ist, bremst das Karussell auf seine normale Geschwindigkeit ab. „Nur auf dem Umweg über den Hoyle-Zustand können Sterne überhaupt in nennenswerter Menge Kohlenstoff erbrüten“, sagt Meißner.
Vor gut zehn Jahren ist es ihm zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA, vom Forschungszentrum Jülich und von der Ruhr-Universität Bochum zum ersten Mal gelungen, diesen Hoyle-Zustand zu simulieren. „Wir hatten damals bereits eine Vorstellung davon, wie die Protonen und Neutronen des Kohlenstoff-Kerns in diesem Zustand angeordnet sind“, erklärt er. „Wir konnten aber nicht sicher nachweisen, dass diese Vorstellung auch zutrifft.“ Mit Hilfe einer weiterentwickelten Methode ist das den Forschenden nun gelungen. Diese basiert im Grunde auf einer Freiheitsberaubung: In der Realität können sich die Protonen und Neutronen nämlich an beliebigen Stellen im Raum aufhalten. Für ihre Berechnungen schränkte das Team diese Freiheit jedoch ein: „Wir ordneten unsere Kernteilchen auf den Knotenpunkten eines dreidimensionalen Gitters an“, erläutert Meißner. „Wir erlaubten ihnen also nur bestimmte, streng definierte Positionen.“
Dank dieser Einschränkung war es möglich, die Bewegung der Nukleonen zu berechnen. Da die Kernteilchen sich je nach Abstand zueinander gegenseitig unterschiedlich stark beeinflussen, ist diese Aufgabe sehr komplex. Die Forschenden ließen ihre Simulation zudem mehrere Millionen Mal mit leicht veränderten Startbedingungen laufen. Sie konnten so sehen, wo sich die Protonen und Neutronen mit der größten Wahrscheinlichkeit aufhielten. „Diese Kalkulationen haben wir für sämtliche bekannten Energiezustände des Kohlenstoff-Kerns durchgeführt“, sagt Meißner. Die Berechnungen erfolgten am Supercomputer Jewels des Forschungszentrums Jülich. Insgesamt erforderten sie rund fünf Millionen Prozessor-Stunden, wobei viele Tausend Prozessoren gleichzeitig arbeiteten.
Die Ergebnisse liefern gewissermaßen Bilder aus dem Kohlenstoffkern. Sie belegen unter anderem, dass die Kernteilchen nicht unabhängig voneinander vorliegen. „Stattdessen sind sie zu Gruppen aus je zwei Neutronen und zwei Protonen geclustert“, erklärt der Physiker. Im Grunde sind die drei Helium-Kerne also noch nach ihrer Verschmelzung zum Kohlenstoffkern nachweisbar. Je nach Energiezustand liegen sie in unterschiedlichen räumlichen Formationen vor – entweder angeordnet zu einem gleichschenkligen Dreieck oder wie ein leicht gebeugter Arm, bei dem Schulter, Ellbogengelenk und Handgelenk jeweils von einem Cluster besetzt sind. Die Studie erlaubt es Forschenden nicht nur, die Physik des Kohlenstoffkerns besser zu verstehen. Meißner: „Die von uns entwickelten Methoden lassen sich auch problemlos zur Simulation anderer Kerne nutzen und werden sicher zu ganz neuen Einblicken führen.“
U. Bonn / JOL