Sisyphus kühlt Moleküle
Opto-elektrisches Verfahren nutzt Polarität von Formaldehyd-Molekülen zur schrittweisen Abkühlung auf 420 Mikrokelvin.
Ultrakalte Moleküle bieten die Möglichkeit, fundamentale chemische Prozesse zu untersuchen und die Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu ergründen. Doch Moleküle lassen sich aufgrund ihrer vielfältigen Schwingungs- und Rotationszustände nur schwer auf sehr tiefe Temperaturen abkühlen. Ein Forscherteam um Martin Zeppenfeld am MPI für Quantenoptik in Garching hat jetzt ein neues Verfahren für die Erzeugung ultrakalter Moleküle entwickelt. Die opto-elektrische Sisyphus-Kühlung nutzt die Polarität von Formaldehyd-Molekülen aus, um sie in mehreren Schritten auf Temperaturen von rund 420 Mikrokelvin zu bringen.
Abb.: Illustration der verschiedenen Schritte, die bei der Sisyphus-Kühlung der polaren Moleküle ablaufen (links). Skizze des experimentellen Aufbaus (rechts, Bild: MPQ).
Der Prozess senkt nicht nur die Temperatur des Gases, sondern entzieht ihm auch Entropie. Man nähert sich so dem Regime, in dem nur noch die Quantenphysik das Gas richtig beschreibt. „Das schafft jetzt die Voraussetzung dafür, weiter gehende Experimente anzuschließen, mit denen wir fundamentale Erkenntnisse über das Verhalten molekularer Vielteilchensysteme gewinnen können“, erklärt Gerhard Rempe, Leiter der Abteilung Quantendynamik am MPQ. „Wir denken dabei beispielsweise an die Untersuchung von Stoßprozessen oder molekularer Spektren. Das ist auch interessant im Hinblick auf die Schlüsselrolle, die Formaldehyd bei chemischen Prozessen im interstellaren Raum spielt.“
Zentrales Element des Experiments ist eine elektrostatische Falle, die von zwei Kondensatorplatten in einem Abstand von drei Millimetern gebildet wird. Auf den Kondensatorplatten sind durch lithographische Mikrostrukturierung Elektroden angebracht, zwischen denen hohe Spannungen liegen. Während also das Feld im Innern niedrig und homogen ist, steigt es in der Nähe der Platten stark an. In dieses Potenzial wird eine bereits auf ein Kelvin vorgekühlte Wolke aus Formaldehyd-Molekülen geladen. Entscheidend für das Funktionieren der relativ neuen Kühltechnik ist, dass die Moleküle ein ausgeprägtes Dipolmoment. Von dessen Ausrichtung relativ zum elektrischen Feld hängt es ab, wie stark ein Molekül gefangen ist: Bei antiparallelem Dipolmoment ist das Molekül stark gefangen, bei geneigtem ist die Wechselwirkung abgeschwächt und bei Parallelstellung von Dipol und elektrischem Feld fliegt das Teilchen aus der Falle heraus.
In der Falle laufen die Teilchen den Potenzialberg am Rand so weit hinauf, bis sich ihre kinetische Energie fast vollständig in potenzielle Energie umgewandelt hat. Genau in diesem Moment wird die Richtung ihres Dipolmoments mit Radiofrequenzstrahlung, die nur dort, also bei hohen Feldstärken, resonant mit einem Übergang ist, so gedreht, dass sie in einen weniger gut gefangenen Zustand übergehen. Diesem Zustand entspricht eine kleinere potenzielle Energie, und beim Zurückrollen in das Zentrum der Falle gewinnt das Molekül entsprechend weniger kinetische Energie.
Damit dieser Vorgang mehrfach wiederholt werden kann, muss das Molekül, unten angekommen, wieder in den stark gefangen Zustand gebracht werden. Dafür wird es durch Strahlung aus einem Infrarotlaser in einen angeregten Vibrationszustand überführt, der spontan in den Grundzustand zerfällt. Dabei kann sich der Dipol wieder antiparallel zum Feld einstellen. Die Geschwindigkeit des spontanen Zerfalls bestimmt auch die Geschwindigkeit des gesamten Kühlprozesses. Es ist daher wichtig, dass er viel schneller abläuft als der durch die RF-Strahlung herbeigeführte Übergang. In jedem Zyklus verlieren die Moleküle Bewegungsenergie – und weil sie dabei immer wieder den Berg hinauf laufen müssen, haben die Forscher das Verfahren nach dem antiken Helden Sisyphus benannt.
Bereits nach knapp fünfzig Sekunden – das entspricht 15 bis 20 Zyklen – hat sich die molekulare Wolke auf eine Temperatur von etwa 420 Mikrokelvin abgekühlt. Um die Temperaturverteilung genau zu bestimmen, bestrahlen die Wissenschaftler in einer Serie von Messungen das Ensemble mit Radiowellen jeweils unterschiedlicher Frequenz. Die Strahlung überführt alle Moleküle, die den Potenzialhügel bis zu einer bestimmten, von der Frequenz abhängigen Höhe oder darüber hinaus erklommen haben, in einen ungefangenen Zustand, so dass sie aus der Falle fliegen. Die übrig gebliebenen Moleküle werden gezählt. Auf diese Weise lässt sich nach und nach eine Verteilung der kinetischen Energie erstellen, aus der die Forscher die Temperatur ableiten können.
Auf diese Weise hat das Team das bisher größte Ensemble ultrakalter Moleküle erzeugt und so einen neuen Rekord aufgestellt. Durch geschickte Bestrahlung des Ensembles mit einem Infrarotlaser und Mikrowellen erreichen die Physiker darüber hinaus, dass sich die Moleküle zu mehr als achtzig Prozent im gleichen internen Rotationszustand ansammeln. „Das Besondere dabei ist, dass sich in den verschiedenen bei der Kühlung ablaufenden Prozessen die Entropie des Ensembles verringert hat“, betont Zeppenfeld. „Mit Hilfe der opto-elektrischen Sisyphus-Kühlung haben wir die Phasenraumdichte des Gases um den Faktor 10.000 erhöht und so die Nützlichkeit der Methode gezeigt. Der erzeugte Zustand, der sich durch eine viel geringere thermische Unordnung auszeichnet, ist entscheidend dafür, dass wir an dem Ensemble jetzt Stoßprozesse zwischen den Molekülen oder in Zukunft kollektive Vielteilchenphänomene untersuchen können. Auch für die Spektroskopie öffnen sich ganz neue Perspektiven.“
MPQ / RK