Superschwer und seltsam
Oganesson, das schwerste bekannte Element, zeigt ungewöhnliche Schalenstrukturen.
Es ist ein Neuzugang im Periodensystem und zugleich das aktuell schwerste bekannte Element: Oganesson wurde zum ersten Mal vor über zehn Jahren synthetisiert und fällt mit einer Ordnungszahl von 118 in die Gruppe der Edelgase. Damit ist es das erste überschwere Edelgas-Atom. Das zweitschwerste Edelgas ist Radon mit einer Ordnungszahl von 86; es zählt nicht zu den überschweren Elementen. Seit 2016 trägt Oganesson offiziell seine Bezeichnung: Es ist nach dem russischen Kernphysiker Juri Zolakowitsch Oganesjan benannt, wissenschaftlicher Leiter des Flerow Labors für Kernreaktionen (FLNR) des Vereinigten Instituts für Kernforschung (JINR) in Dubna.
Abb.: Berechnete Neutronen- (links) und Protonenlokalisierungsfunktionen (rechts) in Zinn-132, Oganesson-302 und dem hypothetischen 472164. Während bei Zinn eine deutliche Schalenstruktur zu erkennen ist, besitzen die schweren Elemente vor allem bei Neutronen eine eher verwaschene Struktur. (Bild: P. Jerabek et al. / APS)
Seine Stellung im Periodensystem als schwerstes Edelgas macht es einerseits interessant für Untersuchungen zu seiner elektronischen und nukleonischen Struktur. Andererseits sind Experimente hierzu schwierig, denn sowohl die Produktionsraten als auch die Lebensdauern dermaßen schwerer Elemente sind sehr gering. Oganesson besitzt eine Halbwertszeit von knapp unter einer Millisekunde, so dass chemische Versuche kaum durchzuführen sind. Ein internationales Forscherteam um Paul Jerabek von der Massey University im neuseeländischen Auckland hat deshalb nun die Methode der „Fermi-Lokalisierung“ genutzt, um die Schalenstruktur sowohl der Elektronen als auch der Nukleonen im Atomkern von Oganesson zu bestimmen.
Damit gelang den Wissenschaftlern nicht nur erstmals die Anwendung dieser Methode für ein überschweres Element. Es zeigte sich auch, dass in diesem Massenbereich Effekte eine Rolle zu spielen beginnen, die bei etwas leichteren Elementen wie Radon in dieser Form noch nicht auftreten. Oganesson zeigt etwa eine ziemlich ungewöhnliche elektronische Schalenstruktur, die man bei einem Edelgas so nicht vermutet hätte.
Bei schweren und überschweren Elementen machen sich mehrere Effekte zunehmend stark bemerkbar. Einerseits ist die Ladung des Atomkerns so groß, dass die inneren Elektronen sie nicht mehr gut abschirmen können. Außerdem wachsen die Coulomb-Kräfte so stark, dass relativistische Effekte ins Spiel kommen. Dies führt bei überschweren Elementen etwa dazu, dass die Elektronenschalen nicht mehr allzu scharf lokalisiert sind und zunehmend verschmieren. Um dies zu berücksichtigen, wandten die Forscher das Dirac-Hartree-Fock-Verfahren anstelle der nichtrelativistischen Schrödinger-Gleichung an. Die Schalenstruktur bestimmten sie über die Fermi-Lokalisierung, mit der sich die Wahrscheinlichkeit, zwei Teilchen in einem bestimmten Raumbereich zu finden, berechnen lässt. Damit konnten die Wissenschaftler sowohl die Struktur der Elektronenhülle als auch diejenige des Atomkern bestimmen.
Für die Elektronen ergab sich eine außergewöhnlich hohe Spin-Bahn-Kopplung sowie starke relativistische Effekte. Die Forscher verglichen ihr komplexes, relativistisches Verfahren auch mit einfachen, nichtrelativistischen Rechnungen. Bei der Bestimmung der Elektronenschalen von Xenon, Radon und Oganesson zeigte sich bei den nichtrelativistischen Näherungsmethoden wie erwartet lediglich eine Zunahme der Schalen gemäß der Stellung im Periodensystem. Die relavistischen Rechnungen lieferten bei Xenon nur schwache Korrekturen. Bei Radon war bereits ein stärkere Abweichung zu sehen, während Oganesson eine gänzlich verwaschene Struktur aufwies und kaum noch von einer geordneten Schalenstruktur zu sprechen war. Dies entspricht einem Übergang zu einem Thomas-Fermi-Gas, bei dem Elektronenpaare mit einheitlicher Dichte vorliegen.
Diese starken relativistischen Effekte verdanken sich zu gutem Teil den sehr starken Spin-Bahn-Kopplungen der Elektronenschalen mit Bahndrehimpuls größer null. Diese lassen die Lokalisierung der einzelnen Teilchen stark „verschmieren“, so dass die gesamte elektronische Struktur sehr viel einheitlicher aussieht als bei den sauber gestaffelten Elektronenschalen der übrigen Edelgase. Daraus resultieren laut den Berechnungen der Forscher eine positive Elektronen-Affinität, eine hohe statische Dipol-Polarisierbarkeit sowie in Folge davon für ein Edelgas ungewöhnlich starke Van-der-Waals-Kräfte. Dies lässt für Oganesson besondere chemische und physikalische Eigenschaften erwarten.
Auch im Atomkern nehmen mit zunehmender Ordnungszahl die außergewöhnlichen Eigenschaften zu. Da die Neutronenzahl bei den schweren Elementen im Verhältnis zu den Protonen überproportional ansteigt, spielt hier die Delokalisierung der Neutronen eine immer größere Rolle. Denn auf demselben Volumen sind mehr Neutronen als Protonen zusammengedrängt.
Die Forscher verglichen Oganesson-302 (mit 118 Protonen und 184 Neutronen) mit dem doppelt magischen Zinn-132 sowie dem hypothetischen, überschweren Atomkern mit 164 Protonen und 308 Neutronen (472164). Simulationen zur Kernstruktur hatten für Oganesson-302 einen etwas verformten Atomkern vorhergesagt, da ihm noch acht Neutronen zum Abschluss der nächsten Neutronenschale fehlen. Außerdem sollte die enorm starke Coulomb-Abstoßung zu einer Konzentration der Protonen in den äußeren Atomkern-Schichten führen. Dies zeigte sich auch in den Rechnungen: Die Protonenschalen waren deutlicher ausgeprägt als die Neutronenschalen, mit zunehmender Protonendichte in den äußeren Schalen. Damit bietet Oganesson ein interessante Möglichkeiten, Theorien zur Struktur der Materie unter extremen Bedingungen zu testen.
Dirk Eidemüller
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