Supraleiter: Schnelle Elektronen verwischen das magnetische Moment
Neues Verfahren zur Berechnung charakteristischer Zeitskalen von Materialeigenschaften.
Bei der Bestimmung der magnetischen Eigenschaften eines Materials tritt ein Problem auf: Das magnetische Moment an einem bestimmten Ort kann sich sehr schnell ändern. Forscher brauchen daher Messmethoden, mit denen sie diese Fluktuationen zeitlich auflösen können. Ausgehend von diesem Grundgedanken gelang es einem Forscherteam der TU Wien und der Uni Würzburg, ein Rätsel der Festkörperphysik zu lösen: Warum liefern unterschiedliche Messungen von Materialeigenschaften manchmal unterschiedliche Ergebnisse?
„Wenn man ein Material verstehen möchte, muss man seine magnetischen Eigenschaften verstehen“, erläutert Alessandro Toschi von der TU Wien. „Sie sagen uns nicht nur, wie das Material auf Magnetfelder reagiert, sie hängen auch eng mit anderen Eigenschaften des Materials zusammen – zum Beispiel mit seinem elektrischen Verhalten.“ Besonders für die Suche nach Hochtemperatur-Supraleitern spielen magnetische Materialeigenschaften eine wichtige Rolle.
Allerdings stellen Wissenschaftler man immer wieder fest, dass unterschiedliche Messungen des Magnetismus bestimmter Materialien zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. „Manchmal erhielt man gar keine sinnvollen Ergebnisse, manchmal führten unterschiedliche Messmethoden zu widersprüchlichen Daten“, sagt Team-Mitglied Clemens Watzenböck. „Dieses Rätsel konnten wir nun mit rein theoretischen Berechnungen lösen.“
Das konnte zeigen, dass die Beweglichkeit der Elektronen im Material darüber entscheidet, mit welchen Methoden sich die magnetischen Eigenschaften messen lassen. „Der Spin der Elektronen im Material verursacht ein magnetisches Moment, das ganz spontan fluktuiert. Diese magnetischen Fluktuationen entstehen durch die natürliche Bewegung der Elektronen. Daher kann das magnetische Moment durch die Bewegung der Elektronen auch rasch wieder ausgeglichen werden“, erklärt Toschi. „Je schneller sich die Elektronen im Inneren des Materials bewegen können, umso schneller können sie auch das Auftreten eines magnetischen Moments unsichtbar machen.“
Das bedeutet: Wenn es im Material einen Prozess gibt, der die Elektronen bremst – etwa eine starke Streuung mit anderen Elektronen oder mit den vibrierenden Atomen des Materials, sodass sie sich nicht mehr besonders schnell im Kristall bewegen können – dann bleibt das entsprechende magnetische Moment deutlich länger messbar.
„Wir haben eine Methode entwickelt mit der man, durch verfeinerte theoretische Analysen und numerische Simulationen herausfinden kann, auf welcher typischen Zeitskala die magnetischen Momente in einem bestimmten Material abgeschirmt werden“, erklärt Watzenböck. Nur wenn man eine Messmethode hat, die auf einer kürzeren Zeitskala ein Ergebnis liefert, bleibt das magnetische Moment messbar. Dauert die Messung länger, erhält man nur ein Durchschnittsergebnis.
Diese Herangehensweise konnte das Forscherteam auf die besonders wichtige Materialklasse der eisenbasierten Supraleiter anwenden. „Wir konnten zeigen, dass sich die charakteristische Zeitskala der magnetischen Fluktuationen bei diesen Supraleitern je nach Material um eine Größenordnung unterscheidet – sie reicht von ungefähr drei bis zu etwa 30 Femtosekunden“, so Watzenböck.
Das erklärt, warum die Ergebnisse von inelastischen Neutronenexperimenten bei manchen Materialen gut interpretierbar sind und bei anderen nicht: Die Zeitskala solcher Neutronen-Experimente liegt bei etwa zehn Femtosekunden. Kurz genug für manche Materialien, aber zu lang für andere. Wenn man hingegen andere Messmethoden einsetzt, etwa Röntgenspektroskopie, die auf kürzerer Zeitskala abläuft, sollte das magnetische Moment all dieser Materialien gut sichtbar bleiben.
Die neuentwickelte Methode, charakteristische Zeitskalen von Materialien zu berechnen, kann nicht nur auf magnetische Eigenschaften angewandt werden, sondern auch auf andere wichtige Materialeigenschaften. „Wir gehen davon aus, dass unsere neue Methode in Zukunft sehr nützlich sein wird, um verschiedenste spektroskopische Experimente zu planen und richtig zu interpretieren“, sagt Toschi. „Auf diesem Gebiet gibt es noch viele offene Fragen – mit unserer Methode wollen wir nun die Physik bekannter Materialien besser verstehen und sogar die Suche nach neuen, besseren Materialien, wie Supraleitern mit hohen kritischen Temperaturen, erleichtern.“
TU Wien / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
C. Watzenböck et al.: Characteristic Timescales of the Local Moment Dynamics in Hund’s Metals, Phys. Rev. Lett. 125, 086402 (2020); DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.086402 - FG Toschi, Institut für Festkörperphysik, Technische Universität Wien, Österreich