Theorien experimentell bestimmen
Effektive Theorien in Vielteilchensystemen lassen sich mit Quantensimulatoren experimentell ableiten.
Zur Beschreibung komplexer Vielteilchensysteme werden dazu häufig effektive Theorien verwendet. Damit lassen sich Wechselwirkungen beschreiben, ohne ein System auf kleinsten Skalen beobachten zu müssen. Wissenschaftler der Universität Heidelberg haben eine neue Methode entwickelt, die es möglich macht, derartige Theorien mithilfe von Quantensimulatoren experimentell zu bestimmen. Die Forschungsergebnisse sind unter der Leitung von Markus Oberthaler (Experimentalphysik) und Jürgen Berges (Theoretische Physik) entstanden.
Vorhersagen über physikalische Phänomene auf der Ebene einzelner Teilchen aus einer mikroskopischen Beschreibung herzuleiten, ist für große Systeme praktisch unmöglich. Das gilt jenseits von quantenmechanischen Vielteilchensystemen bereits in der klassischen Physik, wenn zum Beispiel erhitztes Wasser in einem Kochtopf auf dem Level der einzelnen Wassermoleküle beschrieben werden soll. Betrachtet man allerdings ein System auf großen Skalen, etwa die Wasserwellen im Topf, so können unter bestimmten Voraussetzungen neue Eigenschaften relevant werden. Um deren Physik effizient zu beschreiben, verwendet die Physik effektive Theorien. „Diese Theorien mithilfe von Quantensimulatoren in Experimenten bestimmen zu können, war Ziel unserer Forschung“, sagt Torsten Zache, der für den theoretischen Teil Erstautor der Studie ist. Quantensimulatoren werden dabei eingesetzt, um Vielteilchensysteme einfacher zu modellieren und deren Eigenschaften zu berechnen.
Ihre neuentwickelte Methode haben die Forscher jetzt in einem Experiment mit ultrakalten Rubidiumatomen demonstriert. Diese werden in einer optischen Falle gefangen und aus dem Gleichgewicht gebracht. „In dem von uns so präparierten Szenario verhalten sich die Atome wie kleine Magnete, deren Ausrichtung wir mithilfe neuer Verfahren präzise auslesen können“, so Maximilian Prüfer, Erstautor auf experimenteller Seite. Für die Bestimmung der effektiven Wechselwirkungen dieser „Magnete“ musste das Experiment viele tausend Male wiederholt werden, was eine hohe Stabilität erfordert.
„Die zugrundeliegenden theoretischen Konzepte erlauben es uns, die experimentellen Ergebnisse in einer völlig neuen Art zu interpretieren und damit in Experimenten Erkenntnisse in Bereichen zu erlangen, die bislang auf dem Weg der Theorie noch nicht zugänglich sind“, betont Oberthaler. „Dies wiederum kann uns Hinweise geben, in welche Richtung neuartige Theorieansätze erfolgreich sein können, um damit die relevanten Physikgesetze in komplexen Vielteilchensystemen zu beschreiben“, sagt Berges. Der Ansatz der Heidelberger Physiker ist auf eine Vielzahl anderer Systeme übertragbar und eröffnet daher wegweisende Perspektiven für Quantensimulationen. Diese neue Art der Bestimmung effektiver Theorien wird es ermöglichen, fundamentale Fragen in der Physik zu beantworten, sind sich Jürgen Berges und Markus Oberthaler sicher.
Die Forschungsarbeiten wurden im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Isolierte Quantensysteme und Universalität unter extremen Bedingungen“ (Isoquant) der Universität Heidelberg durchgeführt. Sie sind zugleich Teil des Projekts „Entanglement Generation in Universal Time Dynamics“, für das Oberthaler einen ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) erhalten hat.
U. Heidelberg / DE
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
M. Prüfer et al.: Experimental extraction of the quantum effective action for a non-equilibrium many-body system, Nat. Phys., online 15. Juni 2020; DOI: 10.1038/s41567-020-0933-6 - Gruppe von Markus Oberthaler, Universität Heidelberg
- Gruppe von Jürgen Berges, Universität Heidelberg