Überraschend agile Protonen
Mittlere Energie von Protonen nimmt in neutronenreicher Umgebung deutlich zu.
Laut dem Schalenmodell der Atomkerne bewegen sich die Protonen und Neutronen im Atomkern unabhängig voneinander in wohldefinierten Quantenzuständen. Ein gewisser Anteil der Nukleonen von etwa einem Fünftel hat jedoch einen höheren Impuls. Sie sind paarweise korreliert und zeigen über die kurzen Strecken im Atomkern eine besondere Präferenz bei der Partnerwahl: Meist finden sich Protonen mit Neutronen zusammen. Im Vergleich zu Neutron-Neutron- oder Proton-Proton-Paaren treten solche gemischten Nukleonenpaare bei diesen kurzreichweitigen Verbindungen rund zwanzigfach häufiger auf.
Wissenschaftler der CLAS-Kollaboration vom Jefferson National Laboratory in Newsport, Virginia, haben die Eigenschaften dieser Nukleonenbindungen nun in verschiedenen Kernumgebungen untersucht und sind dabei auf einen überraschenden Zusammenhang gestoßen: Je neutronenreicher der Atomkern ist, desto höhere Impulse tragen die Protonen bei diesen kurzreichweitig korrelierten Paaren in sich. Mit dieser Analyse können sie ältere, ähnliche Beobachtungen nun klar quantifizieren.
Abb.: Das CEBAF Large Acceptance Spectrometer in Halle B des Jefferson Lab. (Bild: Jefferson Lab / DOE)
Hierzu beschossen die Wissenschaftler unterschiedlich massereiche Atomkerne mit einem Elektronenstrahl von rund fünf Gigaelektronenvolt Energie. Die untersuchten Atomkerne waren Kohlenstoff, Aluminium, Eisen und Blei, wobei sich das Verhältnis von Neutronen zu Protonen hin zu den schwereren Elementen immer stärker hin zu den Neutronen verschiebt – in der Nuklidkarte zu sehen an einem zunehmenden Abflachen der Kurve der stabilen Elemente. Wie sich herausstellte, nahm der mittlere Impuls der Protonen deutlich zu. Bei einer Steigerung des Neutronenüberschusses um fünfzig Prozent nahm auch die Anzahl an Protonen mit hohem Impuls um rund fünfzig Prozent zu.
Der Grund für dieses Verhalten liegt vermutlich in den Paarungswahrscheinlichkeiten zwischen Protonen und Neutronen: Während Protonen zunehmend mehr Wahlmöglichkeiten haben, mit einem Neutron eine kurzreichweitig korrelierte Verbindung einzugehen, nehmen diese für die Neutronen ab. Dementsprechend sank der mittlere Neutronenimpuls leicht für schwerere Atomkerne. „Wir haben dieses Ergebnis überhaupt nicht erwartet“, sagt Or Hen vom Massachussetts Institute of Technology, Leiter der Studie. Stattdessen gingen die Forscher davon aus, ähnlich hohe Zahlen von Protonen und Neutronen mit hohem Impuls zu finden.
Frühere Experimente hatten bereits auf ein solches Verhalten der Protonen hingewiesen. Jetzt ist es aber zum ersten Mal gelungen, die Neutronen in die Analyse miteinzubeziehen. Die Forscher analysierten hierzu Daten aus einem alten Experiment von 2004. Der CLAS-Detektor lief von 1998 bis 2012 am Beschleunigerzentrum Jefferson Lab und wurde seitdem von dem neuen Detektor CLAS12 ersetzt.
Das Außergewöhnliche an dieser Analyse ist, dass der CLAS-Detektor eigentlich gar keinen Neutronendetektor besaß und für derartige Experimente nicht ausgelegt war. Stattdessen nutzten die Forscher das elektromagnetische Kalorimeter, das Elektronen von Pionen unterscheiden kann, als Neutronendetektor. Während sich nun die Impulse der Protonen nach dem Zusammenstoß mit den Elektronen anhand der Flugbahn durch die Magnetfelder des Spektrometers mit hoher Genauigkeit von besser als ein Prozent bestimmen lassen, sieht es bei den Neutronen deutlich schwieriger aus. Hier hätte eine Flugzeitmessung von Target zu Detektor lediglich eine Impulsauflösung von zehn bis 15 Prozent ermöglicht – zu schlecht für eine genaue Bestimmung der interessanten Effekte. Die Wissenschaftler der CLAS-Kollaboration mussten deshalb eine aufwändige neue Analysemethode entwickeln, um aus verschiedenen kinematischen Variablen Rückschlüsse auf die Neutronenimpulse ziehen zu können.
Was diese neuen Ergebnisse für das Verständnis der Wechselwirkung von Nukleonen bedeuten werden, wird sich noch herausstellen. So bestehen etwa Neutronensterne nicht vollständig aus Neutronen. Vermutlich sind sie in Schichten aufgebaut. Insbesondere in der äußeren Kruste liegt noch ein gewisser Teil in Protonen vor, sie machen insgesamt aber nur geschätzte fünf Prozent der Gesamtmasse eines Neutronensterns aus. Über den Materiezustand im Kern von Neutronensternen bestehen einige Spekulationen, die bis zu hin zu einem Quark-Gluon-Plasma oder exotischen Materieformen reichen. Wenn die Protonen derart in der Minderzahl sind, sollte sich auch der nun beobachtete Effekt besonders stark bemerkbar machen. Er dürfte Einfluss auf eine ganze Reihe von Phänomenen haben, von der Starrheit dieser Objekte über das Verhältnis von Größe zu Masse bis hin zu Kühlprozessen.
Aber auch auf sehr viel „irdischere“ Probleme der Kernphysik werfen diese Erkenntnisse neues Licht. So ist etwa die Ursache für den EMC-Effekt noch nicht geklärt, der die Abhängigkeit der Strukturfunktion der Nukleonen von der Kernumgebung beschreibt. Die ungewöhnlich agilen Protonen sind aber wohl auch für die Interpretation von Messungen von Neutrinooszillationen von Bedeutung.
Dirk Eidemüller
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