15.08.2018

Überraschend agile Protonen

Mittlere Energie von Protonen nimmt in neutronenreicher Umgebung deutlich zu.

Laut dem Schalen­modell der Atomkerne bewegen sich die Protonen und Neutronen im Atomkern unabhängig voneinander in wohl­definierten Quanten­zuständen. Ein gewisser Anteil der Nukleonen von etwa einem Fünftel hat jedoch einen höheren Impuls. Sie sind paarweise korreliert und zeigen über die kurzen Strecken im Atomkern eine besondere Präferenz bei der Partner­wahl: Meist finden sich Protonen mit Neutronen zusammen. Im Vergleich zu Neutron-Neutron- oder Proton-Proton-Paaren treten solche gemischten Nukleonen­paare bei diesen kurzreich­weitigen Verbin­dungen rund zwanzig­fach häufiger auf.

Wissenschaftler der CLAS-Kollaboration vom Jefferson National Laboratory in Newsport, Virginia, haben die Eigenschaften dieser Nukleonenbindungen nun in verschiedenen Kernumgebungen untersucht und sind dabei auf einen überraschenden Zusammenhang gestoßen: Je neutronenreicher der Atomkern ist, desto höhere Impulse tragen die Protonen bei diesen kurzreichweitig korrelierten Paaren in sich. Mit dieser Analyse können sie ältere, ähnliche Beobachtungen nun klar quantifizieren.

Abb.: Das CEBAF Large Acceptance Spectrometer in Halle B des Jefferson Lab. (Bild: Jefferson Lab / DOE)

Hierzu beschossen die Wissen­schaftler unter­schiedlich masse­reiche Atomkerne mit einem Elektronen­strahl von rund fünf Giga­elektronen­volt Energie. Die unter­suchten Atomkerne waren Kohlen­stoff, Aluminium, Eisen und Blei, wobei sich das Verhältnis von Neutronen zu Protonen hin zu den schwereren Elementen immer stärker hin zu den Neutronen verschiebt – in der Nuklid­karte zu sehen an einem zuneh­menden Abflachen der Kurve der stabilen Elemente. Wie sich heraus­stellte, nahm der mittlere Impuls der Protonen deutlich zu. Bei einer Steigerung des Neutronen­überschusses um fünfzig Prozent nahm auch die Anzahl an Protonen mit hohem Impuls um rund fünfzig Prozent zu.

Der Grund für dieses Verhalten liegt vermutlich in den Paarungs­wahrscheinlich­keiten zwischen Protonen und Neutronen: Während Protonen zunehmend mehr Wahl­möglich­keiten haben, mit einem Neutron eine kurzreich­weitig korre­lierte Verbindung einzugehen, nehmen diese für die Neutronen ab. Dement­sprechend sank der mittlere Neutronen­impuls leicht für schwerere Atomkerne. „Wir haben dieses Ergebnis überhaupt nicht erwartet“, sagt Or Hen vom Massa­chussetts Institute of Tech­nology, Leiter der Studie. Statt­dessen gingen die Forscher davon aus, ähnlich hohe Zahlen von Protonen und Neutronen mit hohem Impuls zu finden.

Frühere Experimente hatten bereits auf ein solches Verhalten der Protonen hinge­wiesen. Jetzt ist es aber zum ersten Mal gelungen, die Neutronen in die Analyse mitein­zubeziehen. Die Forscher ana­lysierten hierzu Daten aus einem alten Experiment von 2004. Der CLAS-Detektor lief von 1998 bis 2012 am Beschleuniger­zentrum Jefferson Lab und wurde seitdem von dem neuen Detektor CLAS12 ersetzt.

Das Außer­gewöhnliche an dieser Analyse ist, dass der CLAS-Detektor eigentlich gar keinen Neutronen­detektor besaß und für derartige Experimente nicht ausgelegt war. Statt­dessen nutzten die Forscher das elektro­magnetische Kalorimeter, das Elektronen von Pionen unter­scheiden kann, als Neutronen­detektor. Während sich nun die Impulse der Protonen nach dem Zusammen­stoß mit den Elektronen anhand der Flugbahn durch die Magnet­felder des Spektro­meters mit hoher Genauig­keit von besser als ein Prozent bestimmen lassen, sieht es bei den Neutronen deutlich schwieriger aus. Hier hätte eine Flugzeit­messung von Target zu Detektor lediglich eine Impuls­auflösung von zehn bis 15 Prozent ermöglicht – zu schlecht für eine genaue Bestimmung der interes­santen Effekte. Die Wissen­schaftler der CLAS-Kolla­boration mussten deshalb eine aufwändige neue Analyse­methode entwickeln, um aus verschie­denen kine­matischen Variablen Rück­schlüsse auf die Neutronen­impulse ziehen zu können.

Was diese neuen Ergeb­nisse für das Verständnis der Wechsel­wirkung von Nukleonen bedeuten werden, wird sich noch heraus­stellen. So bestehen etwa Neutronen­sterne nicht voll­ständig aus Neutronen. Vermut­lich sind sie in Schichten aufgebaut. Insbe­sondere in der äußeren Kruste liegt noch ein gewisser Teil in Protonen vor, sie machen insgesamt aber nur geschätzte fünf Prozent der Gesamt­masse eines Neutronen­sterns aus. Über den Materie­zustand im Kern von Neutronen­sternen bestehen einige Speku­lationen, die bis zu hin zu einem Quark-Gluon-Plasma oder exo­tischen Materief­ormen reichen. Wenn die Protonen derart in der Minder­zahl sind, sollte sich auch der nun beobachtete Effekt besonders stark bemerkbar machen. Er dürfte Einfluss auf eine ganze Reihe von Phäno­menen haben, von der Starrheit dieser Objekte über das Verhältnis von Größe zu Masse bis hin zu Kühl­prozessen.

Aber auch auf sehr viel „irdischere“ Probleme der Kernphysik werfen diese Erkenntnisse neues Licht. So ist etwa die Ursache für den EMC-Effekt noch nicht geklärt, der die Abhängigkeit der Strukturfunktion der Nukleonen von der Kernumgebung beschreibt. Die ungewöhnlich agilen Protonen sind aber wohl auch für die Interpretation von Messungen von Neutrinooszillationen von Bedeutung.

Dirk Eidemüller

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