16.07.2010

Unordnung durch Abkühlen

An Molekülen auf einer Silberoberfläche konnte erstmals inverses Schmelzen in zwei Dimensionen beobachtet werden.

An Molekülen auf einer Silberoberfläche konnte erstmals inverses Schmelzen in zwei Dimensionen beobachtet werden.

Normalerweise schmelzen Kristalle, wenn man sie erwärmt, und gehen dabei von einem geordneten in einen ungeordneten Zustand über. Doch schon 1903 hatte der Chemiker Gustav Tammann argumentiert, dass ein Kristall unter großem Druck einen höheren Wärmegehalt haben kann als die entsprechende Flüssigkeit. Kühlt man dann den Kristall ab, indem man ihm Wärme entzieht, so schmilzt er. Dieses „inverse Schmelzen“ hat man an Polymeren und Legierungen unter hohem Druck beobachtet. Jetzt berichten Forscher an der Universität Würzburg, dass inverses Schmelzen auch bei normalem Druck in dünnen Molekülschichten auftreten kann.

Abb.: Die Elektronenstreuung bringt ans Licht, wie sich die Moleküle auf der Silberoberfläche lagern (B): Bei 300 K herrscht kristalline Ordnung (A), bei 155 K ist die Ordnung weg und der Kristall „geschmolzen“. (Bild: A. Schöll et al., Science)

Achim Schöll und seine Kollegen haben untersucht, wie sich organische NTCDA-Moleküle (1,4,5,8-Naphthalen-Tetracarboxyldianhydrid) auf einer einkristallinen Silberoberfläche anordnen. Dazu brachten sie 70 % einer Monolage der Moleküle auf die Oberfläche und variierten die Temperatur zwischen 300 K und 155 K. Mit hochauflösender Elektronenbeugung nahmen sie die Beugungsmuster der Molekülschichten für verschiedene Temperaturen auf. Während bei 300 K ein Beugungsmuster mit symmetrisch angeordneten, scharfen Intensitätsmaxima auftrat, war bei 155 K nur ein diffuses Beugungsbild zu sehen.

Offenbar war der zweidimensionale Molekülkristall bei Abkühlung von 300 K auf 155 K „geschmolzen“. Die bei hoher Temperatur vorliegende langreichweitige Ordnung der Moleküle war bei tiefer Temperatur verschwunden. Durch abwechselnde Erwärmung und Abkühlung der Molekülschicht ließ sich das inverse Schmelzen beliebig oft wiederholen, wobei Hysterese auftrat. Bei Abkühlung unter 160 K schmolz der Kristall, aber erst bei Erwärmung über 180 K wurde aus dem ungeordneten Zustand wieder ein Kristall. Beim inversen Schmelzen handelte es sich also um einen reversiblen Phasenübergang 1. Ordnung.

Durch Röntgenabsorptionsmessung fanden die Forscher heraus, dass die Moleküle in beiden Phasen glatt auf der Silberoberfläche lagen. Eine genauere Analyse zeigte indes, dass die Moleküle in der ungeordneten Tieftemperaturphase fester an die Unterlage gebunden waren als in der geordneten Hochtemperaturphase. Die Bindung der ungeordneten Moleküle an die Unterlage war wesentlich stärker als die Wechselwirkung der Moleküle untereinander. Beim inversen Schmelzen der Molekülschicht traten diese beiden Wechselwirkungen miteinander in Konkurrenz.

In der Tieftemperaturphase führte die starke Bindung der Moleküle an die Unterlage dazu, dass sie sich unterschiedlich ausgerichtet und verschoben positionierten. Folglich trat keine langreichweitige Ordnung auf. Erwärmte man die Moleküle, so lockerte die aufgenommene Energie die Bindungen. Daraufhin konnte sich die Wechselwirkung zwischen den Molekülen bemerkbar machen und sie regelmäßig anordnen. Trotzdem nahm die Gesamtentropie zu: Die Abnahme der Entropie durch das Auftreten der langreichweitigen Ordnung wurde nämlich mehr als wett gemacht durch die Entropiezunahme, die dadurch zustande kam, dass sich die Bindungen der Moleküle an die Unterlage in ungeordneter Weise lockerten. Diese versteckte Unordnung hatte sich bei den Elektronenbeugungsmustern nicht bemerkbar gemacht.

RAINER SCHARF


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