12.06.2008

Unordnung lokalisiert Materiewellen

Die Anderson-Lokalisierung von Bose-Einstein-Kondensaten wurde jetzt von zwei Forschergruppen unabhängig voneinander beobachtet.



Die Anderson-Lokalisierung von Bose-Einstein-Kondensaten wurde jetzt von zwei Forschergruppen unabhängig voneinander beobachtet.

In einem perfekt geordneten Kristall bewegen sich die Leitungselektronen ungehindert und ihre Wellenfunktionen sind delokalisiert. Doch was geschieht, wenn der Kristall ungeordnet ist, wenn sich etwa die potentielle Energie der Elektronen von Gitterplatz zu Gitterplatz zufällig ändert? In eindimensionalen ungeordneten Systemen sind dann alle Eigenfunktionen lokalisiert, wie Phil Anderson herausgefunden hatte. Ein Elektron kann sich also nicht beliebig weit in einem ungeordneten Draht bewegen. Diese Anderson-Lokalisierung hatte man schon mit Lichtwellen in ungeordneten lichtdurchlässigen Materialien beobachtet, nicht jedoch mit Elektronen, da sie sich gegenseitig zu stark beeinflussen. Doch jetzt konnte die Anderson-Lokalisierung erstmals mit Materie beobachtet werden: mit ultrakalten Atomen in einem ungeordneten optischen Potential.

Sowohl die Gruppe von Alain Aspect in Paris als auch Massimo Inguscio und seine Mitarbeiter in Florenz haben bei ihren Experimenten Bose-Einstein-Kondensate (aus Rubidium-87- bzw. Kalium-39-Atomen) benutzt. Die Atome wurden zunächst mit einer optischen Falle festgehalten und einem ungeordneten, zeitlich konstanten Lichtmuster ausgesetzt. Die französischen Forscher nahmen dazu ein Speckle-Muster, das von Laserlicht nach Durchgang durch eine Mattscheibe erzeugte wurde, während die italienischen Wissenschaftler zwei Laserstrahlen mit inkommensurabler Wellenlänge zu einem quasiperiodisches Intensitätsmuster überlagerten. Die Atome des Kondensats verspürten in beiden Fällen ein (quasi-)zufälliges optisches Dipolpotential.

Durch die geringe Dichte des Kondensats bzw. durch Feshbach-Resonanzen wurde sichergestellt, dass die sich kohärent überlagernden Materiewellen der Atome praktisch nicht miteinander wechselwirkten. Die Forscher öffneten ihre optischen Fallen in einer Raumrichtung, woraufhin sich die Kondensate in diese Richtung ausdehnen und das optische Zufallspotential austesten konnten. Quer dazu war das Potential konstant, sodass eine quasi-eindimensionale Situation vorlag. Die Form und Ausdehnung der Kondensatwolken wurde optisch registriert, durch Fluoreszenz bzw. Absorption.

In beiden Experimenten dehnten sich die Kondensate zunächst aus, kamen aber bald zum Stillstand. Das lag jedoch nicht daran, dass sie auf ein unüberwindliches lokales Maximum des Potentials gestoßen waren. Die Forscher hatten nämlich dafür gesorgt, dass das optische Potential viel kleiner war als die kinetische Energie der Atome im Kondensat. Vielmehr war Anderson-Lokalisierung eingetreten. Die vom Zufallspotential vielfach gestreuten Materiewellen interferierten destruktiv und löschten sich gegenseitig mit zunehmendem Abstand vom Zentrum des Kondensats immer vollständiger aus. Das führte dazu, dass die Intensität der Kondensatwellenfunktion und damit die beobachtbare Atomdichte exponentiell mit dem Abstand abnahmen.

Die beiden Experimente zeigten jedoch auch Unterschiede. Das quasiperiodische Potential musste eine Mindeststärke haben, um das Kondensat lokalisieren zu können. Wurde die Stärke des Potentials langsam verringert, so konnte es bei einer kritischen Stärke das Kondensat nicht mehr lokalisieren und es trat ein Übergang in einen delokalisierten Zustand auf. Beim völlig zufälligen Speckle-Potential konnten die Forscher die exponentielle Lokalisierung sehr deutlich beobachten. Die Lokalisierungslänge, die den exponentiellen Abfall der Wellenfunktion charakterisiert, hing von der Stärke des Potentials ab und lag im Millimeterbereich. Allerdings durfte die Zahl der Atome im Kondensat nicht zu groß sein. Je größer die Atomzahl war, umso kürzere Wellenlängen konnten in der Wellenfunktion des Kondensats auftreten. Wenn diese Wellenlänge kürzer war als die Korrelationslänge des optischen Potentials, dann war das Potential für diese Wellenlänge nicht mehr zufällig und es konnte die entsprechende Welle nicht mehr lokalisieren. Bei einer kritischen Wellenlänge trat wiederum ein Übergang vom lokalisierten zum delokalisierten Kondensat auf, den Aspect und seine Mitarbeiter beobachtet haben.

Die Experimente in Paris und Florenz eröffnen ungeahnte Möglichkeiten. So kann die Anderson-Lokalisierung mit Kondensaten auch in zwei und drei Dimensionen untersucht werden. Da mit zunehmender Dimensionszahl die Zahl der Fluchtwege für die Teilchen zunimmt, erwartet man, dass in drei Dimensionen schon Delokalisierung eintritt, wenn die Potentialstärke einen bestimmten Wert unterschreitet. Die kritischen Exponenten, die diesen Anderson-Übergang charakterisieren, könnte man anhand der Kondensate messen. Darüber hinaus kann die Wechselwirkung zwischen den Atomen mithilfe von Feshbach-Resonanzen in weiten Grenzen verändert und sowohl anziehend als auch abstoßend gemacht werden. Dadurch wird es möglich, den Einfluss der Wechselwirkung zwischen den Teilchen auf die Anderson-Lokalisierung zu studieren. Schließlich kann man die Lokalisierungsexperimente auch mit fermionischen Atomen machen. Einmal mehr erweisen sich die kalten atomaren Gase als ideales System, an dem man interessante Fragen aus der Festkörperphysik untersuchen kann.

Rainer Scharf

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