Die moderne Physik hat eine große Zahl theoretischer Ansätze entwickelt, mit denen sich die Welt der Elementarteilchen beschreiben lässt. Nun müssen Experimente aussortieren, welche Theorien der Realität standhalten. Eines davon ist das MEG-Experiment am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz. In Zusammenarbeit mit Forschern aus Italien, Japan, Russland und den USA suchen PSI-Physiker nach einem bestimmten, bislang nicht beobachteten Zerfall von Myonen. Genauer gesagt beziffern sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eben diesen Zerfall ist. Ihre neueste Zahl lautet: Höchstens eines von 2,4 Billionen Myonen zerfällt nach dem MEG-Muster. Damit ist ein solcher Zerfall rund fünfhunderttausend Mal unwahrscheinlicher als ein Sechser im Schweizer Lotto. Für diese hochgenaue Messung haben die Wissenschaftler extrem viele Myonenzerfälle beobachtet. Das war nur am PSI möglich, da sich dort die weltweit leistungsstärkste Myonenstrahl-Anlage befindet.
Abb.: Teilchenphysikerin Angela Papa am MEG-Experiment. (M. Fischer, PSI)
Myonen sind exotische Elementarteilchen, die sehr kurzlebig sind. Sie zerfallen direkt nach ihrer Entstehung in andere, stabilere Teilchen. Dabei können sie jedoch unterschiedliche Zerfallspfade einschlagen. Ein bestimmter Zerfallspfad ist noch nie beobachtet worden, aber für die Physiker von großem Interesse: Der Zerfall eines Myons in ein Elektron und ein Gamma-Photon. Klar ist bislang lediglich, dass solche MEG-Zerfälle extrem selten sind. Wie selten genau, das beziffert das Forscherteam am PSI mit dem MEG-Experiment. Die Wissenschaftler erhoffen sich dabei, die Tür zu einer neuen Physik aufzustoßen.
Das experimentell ermittelte Limit der Wahrscheinlichkeit für den MEG-Zerfall ist ein relevanter Parameter für mathematische Modelle, mit denen sich unser gesamtes Universum beschreiben lässt. Manche dieser Theorien – darunter das derzeit gebräuchliche Standard-Modell der Teilchenphysik – besagen, dass der MEG-Zerfall so gut wie nie vorkommt und damit unmöglich zu beobachten ist. Das Standard-Modell beschreibt zwar nahezu alle beobachteten Phänomene – aber eben nicht alle. So bietet es keine Erklärung für die dunkle Materie und die dunkle Energie, die beiden rätselhaften Hauptbestandteile des Kosmos.
Deshalb suchen Wissenschaftler weltweit nach einer neuen Physik. Einer Theorie also, die zwar die Vorhersagen des Standard-Modells beinhaltet, aber darüber hinausgeht – und damit unser Universum umfassender beschreibt. Eine vielversprechende Gruppe von Theorien ist Susy, kurz für Supersymmetrie. Viele der theoretischen Modelle aus der Susy-Familie sagen eine Wahrscheinlichkeit für den MEG-Zerfall voraus, die so hoch ist, dass der Zerfall am PSI früher oder später beobachtet werden sollte. Mit jeder noch genaueren Messung, bei der der Zerfall nicht gefunden wird, lässt sich daher eine Reihe alternativer Theorien verwerfen.
Die neu bezifferte Wahrscheinlichkeit des MEG-Zerfalls erhielten die Forscher durch die Auswertung von Daten, die sie zwischen 2009 und 2013 beinahe kontinuierlich sammelten. Nicht nur die lange Messzeit war erforderlich, um das nun vorliegende Ergebnis zu erhalten – auch die Versuchsdurchführung war entscheidend. Die Myonenanlage am PSI liefert pro Sekunde etwa dreißig Millionen Myonen. Nur dank dieses hohen Durchsatzes konnten die Forscher in den fünf Jahren 2,4 Billionen Myonen und ihre Zerfälle vermessen. Der entscheidende MEG-Zerfall war nicht dabei – und so kommen sie auf die neue Obergrenze der Wahrscheinlichkeit für diesen Zerfall.
Trotzdem sieht das Team das Experiment als Erfolg an. „Dadurch, dass wir den Zerfall bisher nicht gesehen haben, können wir die gedankliche Linie verschieben, hinter der nach einer neuen Physik gesucht werden muss“, erklärt Angela Papa vom PSI. „Sollten wir eines Tages doch einen MEG-Zerfall beobachten, wäre das ein starker Hinweis auf neue Physik." Das bedeutet noch nicht, dass ein gesamter theoretischer Ansatz wie die Supersymmetrie verworfen werden muss, sondern lediglich individuelle Modelle innerhalb solcher Theorie-Familien. Die PSI-Forscher werden das MEG-Experiment und damit die Suche nach dem Zerfall auch in Zukunft verfeinern und fortsetzen. Ob der Zerfall eines Tages beobachtet wird oder nicht – die Messergebnisse tragen in jedem Fall wesentlich zu unserem Wissen um die fundamentalen Struktur der Materie bei.
PSI / RK