Vielseitige molekulare Bürsten
Neutronen-Kleinwinkelstreuung macht interessante Strukturveränderungen sichtbar.
Sie sehen aus wie mikroskopisch kleine Flaschenbürsten: Polymere mit einem Rückgrat und Büscheln von Seitenarmen. Dieses molekulare Design verleiht ihnen ungewöhnliche Fähigkeiten: Sie können beispielsweise Wirkstoffe binden und bei einer Temperaturänderung wieder freisetzen. Mit Hilfe von Neutronenstrahlen ist es nun einem Forschungsteam der Technischen Universität München (TUM) gelungen, die Veränderungen der inneren Struktur, die sich dabei vollzieht, sichtbar zu machen.
„Mit klassischen optischen Verfahren lässt sich die Struktur der nur nanometerkleinen Flaschenbürsten-Polymere nicht untersuchen: Man kann zwar sehen, dass eine wässrige Lösung, die diese Polymere enthält, bei einer bestimmten Temperatur trübe wird. Aber warum das so ist, und wie sich das Rückgrat und die Seitenarme im Wasser ausstrecken oder zusammenziehen, war bisher ungeklärt“, berichtet Christine Papadakis.
Dass Wissenschaftler gerne mehr über das Innenleben der Flaschenbürsten-Polymere wüssten, hat einen einfachen Grund: Die puscheligen Moleküle, die aus verschiedenartigen Polymerketten bestehen und bei einer bestimmten Temperatur schlagartig ihre Wasserlöslichkeit ändern, sind aussichtsreiche Kandidaten für eine Vielzahl von Anwendungen. Beispielsweise könnten sie als Katalysatoren zur Beschleunigung chemischer Reaktionen dienen, als molekulare Schalter, um winzige Ventile zu öffnen oder zu schließen oder als Transportmedium für medizinische Wirkstoffe – so könnten die molekularen Bürsten Pharmazeutika zu einem Entzündungsherd bringen, und, weil dort die Temperatur erhöht ist, sie direkt am Einsatzort freisetzen.
Die Grundvoraussetzung für eine Nutzung der Bürsten-Moleküle ist allerdings, dass sich ihr Verhalten programmieren lässt: Theoretisch können Chemiker durch die Kombination von wasserlöslichen und wasserunlöslichen Bausteinen genau festlegen, bei welcher Temperatur die Polymere verklumpen und eine Flüssigkeit, in der sie gerade noch gelöst waren, trübe wird.
„In der Praxis muss man aber genau wissen, wie und unter welchen Bedingungen sich die Struktur der Polymere ändert, wenn man smarte Bürsten-Moleküle designen will“, erläutert Papadakis. Zusammen mit ihrem Team im Fachgebiet Physik weicher Materie der TU München konnte sie jetzt erstmals die Veränderungen sichtbar machen, die Flaschenbürsten-Polymere mit Armen aus zwei unterschiedlichen Baustein-Typen durchlaufen, wenn die Temperatur den Trübungspunkt erreicht.
Die Wissenschaftler nutzten dafür Neutronenstrahlung der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) auf dem Campus Garching in einer speziellen Messanlage für Neutronen-Kleinwinkelstreuung, die vom Forschungszentrum Jülich betrieben wird. Diese ist für die Untersuchung besonders gut geeignet, weil Neutronen elektrisch neutral sind und daher in die Materie eindringen. Dort werden sie von den Atomkernen gestreut. Die Bilder der Bürsten-Moleküle, die so entstehen, sind aussagekräftiger als Röntgenaufnahmen und detaillierter als Rasterelektronenmikroskop-Darstellungen. Die thermoresponsiven Bürsten-Moleküle, die Papadakis‘ Team untersucht hat, wurden von Kollegen der National Hellenic Research Foundation in Griechenland beziehungsweise der Technischen Universität Dresden synthetisiert.
Im ersten Schritt wurden die Proben in Wasser gelöst, dann schrittweise bis zum Trübungspunkt erwärmt und mit Neutronen bestrahlt. Aus der gestreuten Strahlung konnten die Forscher auf die strukturellen Veränderungen zurückschließen. Je nach Aufbau der Polymere fand schon vor Erreichen des Trübungspunktes eine Abspaltung von Wasser-Molekülen statt. Am Trübungspunkt selbst kollabierte dann die Molekülstruktur. Übrig blieben wasserunlösliche Polymer-Knäuel, die je nach Restwassergehalt lose oder kompakte Cluster bildeten. „Die Ergebnisse werden dabei helfen, praxistaugliche Flaschenbürsten-Polymere zu entwickeln“, davon ist die Physikerin überzeugt. „Wenn man genau weiß, wie sich die Polymere am Trübungspunkt verändern, kann man ihren chemischen Aufbau für verschiedene Anwendungen optimieren.“
TUM / DE