Virtueller Bahnlärm
Akustiker entwickeln Simulationsspiel für Bahnlärm.
Für Anwohner von Bahnstrecken ist er oftmals lästig – und für Fachleute, die ihnen helfen möchten, eine so vielschichtige Herausforderung, dass es eigentlich einen Plural von „Bahnlärm“ geben müsste. Rollgeräusche von Stahlrädern auf rauen oder glatteren Schienen, Bremstöne in unterschiedlichen Frequenzen, Motorenlärm, aerodynamische Geräusch – das alles gedämpft oder beeinflusst von Lärmschutzwänden, Böschungen, der Beschaffenheit des Bodens unter den Gleisen und auch von der Umgebung, in der sich die Schallwellen ausbreiten. Wie komplex diese akustischen Folgen des Schienenverkehrs sind, wissen Forschende der Empa um Gruppenleiter Reto Pieren von der Abteilung „Akustik / Lärmminderung“ aus praktischer und theoretischer Erfahrung. Seit Jahren erkunden sie das Phänomen mit Messungen, Simulationen, Validierungen: Erkenntnisse, die in das zweijährige EU-Projekt „Silvarstar“ mit vielen Partnern mündeten. Das Resultat: eine akustische Simulation von Bahnlärm unterschiedlichster Ausprägungen – hör- und erlebbar mit Hilfe von virtueller Realität.
Solche Tools für die Auralisation gibt es vereinzelt als Prototypen in der Forschung, doch in der Praxis von Planung und Lärmschutz sind sie bislang nicht verfügbar. Silvarstar soll das ändern. Während das Empa-Team, das bei der Simulation die Projektleitung innehatte, sein akustisches Expertenwissen aus zahlreichen Projekten einfliessen liess, steuerten Fachleute von der University Southampton und der Zürcher Firma Bandara VR wertvolles Wissen bei, um ein nutzerfreundliches System zu entwickeln. Als Grundlage dazu diente unter anderem die verbreitete Software Unity für professionelle Game-Entwickler.
Ziel war schließlich ein Tool, das auch Laien nutzen können. Zum Beispiel Verkehrspolitiker, die Auswirkungen einer künftigen Bahntrasse abschätzen möchten. Wie sie solche virtuellen Vorbeifahrten erleben, zeigt beispielhaft ein Video von Vorbeifahrten: Für eine einzige Strecke lassen sich mehrere Szenarien vergleichen, zum Beispiel mit Zugtypen vom Güterzug über eine Regionalbahn bis zum ICE, mit hohen oder niedrigen Lärmschutzwänden, spezifischen Rad- und Dämpfungstypen, die ebenfalls einen hörbaren Einfluss auf den Bahnlärm haben, und vielen weiteren Faktoren. Und weil auch die Umgebung eine Rolle spielt, können Nutzer zwischen „Stadt“ oder „Land“ entscheiden oder eine ebenerdige oder erhöhte Position wählen, etwa auf einem Balkon.
Hinter diesen Möglichkeiten stecken komplexe Algorithmen in einem physik-basierten Rechenmodell, das akustische Signale nicht aus archivierten Tondateien erzeugt, sondern allesamt einzeln berechnet und erzeugt – für hunderte Geräuschquellen und Einflussfaktoren, je nach Komplexität des Szenarios. Das stellte das Team auch vor Herausforderungen. Die große Vielfalt von Einflüssen ermöglicht zwar realitätsnahe Simulationen. Doch sie erforderte zugleich, das Geflecht der Algorithmen sinnvoll auf das Wesentliche zu reduzieren – auch mit Blick auf die nötige Rechenzeit: Bis zu drei Stunden benötigt ein moderner PC für eine Vorbeifahrt eines 500-Meter-Güterzugs, damit dessen Lärmemissionen unter verschiedenen Bedingungen hörbar gemacht werden können.
Doch der Aufwand lohnt sich, wie die Validierung des Systems zeigte. Die Grafiken der synthetisierten Lärmverläufe liegen sehr nahe bei gemessenen Vergleichswerten und sind sogar teils deckungsgleich. Subjektive Eindrücke lieferten Vorführungen an Verkehrstechnik-Messen wie der InnoTrans im vergangenen Jahr in Berlin: Die Besucher attestierten der Simulation eine hohe Glaubwürdigkeit und zeigten großes Interesse an der Anwendung des virtuellen „Bahnlärm-Spiels“. Für Interessenten ist der Download der Tools mitsamt Lizenzvereinbarung für nicht-kommerzielle Zwecke über die Silvarstar-Webseite möglich. „Die ersten Einsätze der Simulation beginnen bereits“, sagt Reto Pieren, „wir sind mit den Resultaten sehr zufrieden und erwarten für die Zukunft zahlreiche Anwendungen.“
Das europäische Forschungsprojekt Silvarstar, das gut zwei Jahre lief, wurde im Rahmen des EU-Programms Horizon 2020 durch „Europe's Rail“ gefördert. Im Projekt-Konsortium wirkten neben der Empa industrielle und akademische Partner aus fünf europäischen Ländern mit. Neben der Simulation von Bahnlärm entwickelte das Projekt ausserdem Modelle für die Erschütterungen des Untergrundes durch Zugverkehr.
Empa / JOL