Vom Sommerfeld-Assistenten zum Siemens-Forschungsleiter
Vor 100 Jahren wurde Heinrich Welker geboren, einer der Väter des europäischen Transistors.
Das zweistöckige Haus in Aulnay-sous-Bois, einem Vorort von Paris, unterschied sich auf den ersten Blick nicht von den benachbarten Häusern. Mangels Laborgebäuden in der vom Krieg gebeutelten Hauptstadt, hatte die „Compagnie des Freins et Signaux Westinghouse“ hier zwei deutsche Physiker untergebracht: Heinrich Welker und Herbert Mataré. Beide waren Anfang dreißig und hatten während des Krieges am deutschen Radarprogramm mitgearbeitet. Agenten des französischen und britischen Geheimdienstes hatten 1946 die Bedeutung der deutschen Arbeiten erkannt und die Physiker für den Job in Paris vorgeschlagen. Da Forschung im zerstörten und besetzten Nachkriegsdeutschland nur unter großen Schwierigkeiten möglich war, hatten Welker und Mataré angenommen.
Heinrich Welker, geboren am 9. September 1912 in Ingolstadt, kam aus der theoretischen Physik. Er hatte bei Arnold Sommerfeld in München habilitiert. 1940 wechselte er zur Drahtlostelegraphischen und Luftelektrischen Versuchsstation Gräfelfing (ab 1941 Teil des Flugfunk-Forschungsinstituts Oberpfaffenhofen), wo er sich mit Ultrakurzwellentechnik befasste. Gleichzeitig hielt er den Kontakt zur Universität München. Von 1942 bis 1945 forschte er bei Klaus Clusius am Physikalisch-Chemischen Institut. Dort lernte er, Festkörper mit den Augen des Chemikers zu sehen. Das war eine wertvolle Ergänzung zu seinen theoretischen Kenntnissen über die elektrischen Eigenschaften von Metallen und Supraleitern, die er bei Sommerfeld untersucht hatte.
Während des Krieges beschäftigte sich Welker vor allem mit dem Materialeigenschaften von Silizium und Germanium. In den 1930er-Jahren hatte man beide Elemente den Metallen zugerechnet. Das lag aber an Verunreinigungen, die zusätzliche Leitungselektronen zur Verfügung stellten. Welker bemerkte es, als er für das deutsche Radarprogramm immer reinere Germanium-Proben herstellte. Sein Patent für einen Germanium-Gleichrichter für hochfrequente elektromagnetische Wellen nutzte die Firma Siemens bis Kriegsende, um etwa 10.000 Richtleiter herzustellen. Anfang 1945 beschrieb Welker in einer theoretischen Arbeit einen Feldeffekttransistor aus Halbleitern. Er hatte große Ähnlichkeit mit dem Bauelement, das William Shockley wenige Monate später bei den Bell-Laboratorien vorstellte. Weil der erwartete Verstärkungseffekt bei den ersten Prototypen, die im März 1945 getestet wurden, aber ausblieb, wandte sich Welker wieder der Supraleitung zu.
In Paris sollten die beiden deutschen Physiker nun für den Elektronik-Hersteller Westinghouse eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung aufbauen, die Germanium-Gleichrichter für die Telekommunikation und für militärische Anwendungen herstellte. Im Kellergeschoss des Hauses installierte Welker sein Halbleiterlabor; Matarés elektronisches Labor war im Erdgeschoss. In der oberen Etage gab es Schlafzimmer, wo die Forscher insbesondere im ersten intensiven Jahr ihrer Zusammenarbeit übernachteten. Mataré erinnert sich, dass er zuweilen nachts von den sanften Trillern der Geige aufwachte, die Welker im benachbarten Zimmer spielte. Was ihn wach hielt, war die Fortführung der Arbeiten über Halbleiter-Transistoren, mit denen sich auch Mataré während des Krieges beschäftigt hatte. Matarés Arbeit im ausgelagerten Telefunken-Labor nahe Breslau war durch den Vormarsch der russischen Armee im Januar 1945 jäh unterbrochen worden. Die Laborbücher hatte er verbrennen müssen, damit sie dem Feind nicht in die Hände fielen.
In dem Pariser Vorort entwickelten Heinrich Welker und Herbert Mataré gleichzeitig und unabhängig von den US-Forschern den ersten europäischen Transistor, den sie „Transistron“ nannten. Vorgestellt wurde er am 18. Mai 1949, knapp ein Jahr, nachdem William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain von Bell Laboratories ihren Transistor in einer Pressekonferenz Ende Juni 1948 präsentiert hatten. Die amerikanischen Forscher bekamen dafür 1956 den Physik-Nobelpreis. Das europäische Transistron war dem amerikanischen Modell offenbar überlegen, wie Shockley 1949 bei einem Besuch in Paris zugeben musste. Da die französische Regierung die Arbeiten von Welker und Mataré in der Folgezeit jedoch nicht in dem Maße unterstützte, dass sie mit den Bell Laboratorien hätten konkurrieren können, gingen die beiden Physiker wieder zurück in ihre Heimat.
Heinrich Welker im Jahr 1970 als Leiter des Forschungslaboratoriums der Siemens-Schuckertwerke in Erlangen. (Foto: Siemens-Archiv)
Welker übernahm 1951 bei den Siemens-Schuckertwerken in Erlangen im „Allgemeinen Laboratorium“ die Leitung der Abteilung Festkörperphysik. Hier konzentrierte er sich auf die synthetische Herstellung von III-V-Verbindungen, denn er hatte berechnet, dass die Beweglichkeit der Elektronen in diesen Nachbildungen der Elemente der IV. Hauptgruppe größer sein sollte als in Germanium. In dem ersten Material, das er untersuchte, Indium-Antimonid, fand er tatsächlich bereits 1951 eine zehnmal größere Elektronenbeweglichkeit. In der Folgezeit stellte sein Labor alle 16 III-V-Verbindungen her und untersuchte ihre Eigenschaften. Als technisch interessant erwies sich dabei vor allem das Gallium-Arsenid. Welker gelang es, die gefundenen galvanomagnetischen und optoelektronischen Effekte in neuen Schaltkreisen für die Mikroelektronik auszunützen.
1961 wurde Welker Leiter des gesamten Forschungslaboratoriums der Siemens-Schuckertwerke in Erlangen und stieg von da an in der Hierarchie kontinuierlich auf. Ab 1973 leitete er die Zentrale Forschung und Entwicklung der Siemens AG, die 1966 aus einer Fusion von Siemens & Halske, Siemens-Schuckertwerke und Siemens-Reiniger-Werke entstanden war. Welker engagierte sich auch in zahlreichen Wissenschaftsorganisationen, von 1978 bis 1979 war er Präsident der DPG. Anfang der 1970er-Jahre setzte er sich maßgeblich dafür ein, die „Physikalischen Blätter“ (heute „Physik Journal“) als Sprachrohr der DPG zu etablieren. Sein wissenschaftliches Vermächtnis ist die systematische Erkundung der III-V-Halbleiter. Er ebnete den Weg für das moderne „material engineering“, das es ermöglicht, Halbleiter-Verbindungen mit maßgeschneiderten Eigenschaften herzustellen.
Anne Hardy