26.05.2009

Von Bologna nach Leuven und darüber hinaus

Qualität und Ansehen des Physikstudiums in Deutschland müssen bewahrt werden. Von Gerd Litfin



Physik Journal - Qualität und Ansehen des Physikstudiums in Deutschland müssen bewahrt werden. Von Gerd Litfin

Zehn Jahre nach der Deklaration von Bologna, von der 1999 eine enorme Umwälzung der europäischen Hochschullandschaft ausging, haben sich Ende April die zuständigen Ministerinnen und Minister der 46 beteiligten Staaten im belgischen Leuven getroffen, um Zwischenbilanz zu ziehen und über die Fortsetzung der Reformen zu diskutieren.

Ziel der Bologna-Reform ist ein gemeinsamer europäischer Hochschulraum mit transparenten und vergleichbaren Studienabschlüssen. Das soll die Mobilität der Studierenden und die Durchlässigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt verbessern und zugleich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulen in Lehre und Forschung steigern. Die verpflichtende Einführung eines gestuften, zweigliedrigen Systems von Bachelor- und Master-Abschlüssen bis zum Jahr 2010 ist dabei nur die markanteste Veränderung.

Das deutsche Hochschulsystem mag in mancher Hinsicht reformbedürftig gewesen sein. Der Reformwille macht aber auch nicht vor solchen Studiengängen halt, deren Qualität weder in der Selbsteinschätzung der Lehrenden noch in der Außenwahrnehmung durch die Studierenden und durch den Arbeitsmarkt in Zweifel stand. Den Hochschulen bleibt dabei nur, das Beste aus der Situation zu machen.



Abb.: Prof. Dr. Gerd Litfin ist Präsident der DPG.


Der erzwungene Abschied vom Physik-Diplom, das Wissenschaft und Wirtschaft im In- und Ausland geschätzt haben, hat zu kontroversen Diskussionen geführt. Um zu gewährleisten, dass Studierende in Deutschland weiterhin eine physikalische Ausbildung auf international höchstem Niveau erhalten, die dem bewährten Diplom ebenbürtig ist, haben daher die DPG und die Konferenz der Fachbereiche Physik (KFP) Empfehlungen für die Gestaltung der neuen Studiengänge erarbeitet. Diese sehen ein sechssemestriges Bachelorstudium vor, das ein breites physikalisches Grundlagenwissen vermittelt, und darauf aufbauend ein viersemestriges Masterstudium, das auf Spezialkenntnisse in Teilfächern zielt.

Inzwischen sind fast alle Physik-Studiengänge in Deutschland umgestellt, und es wird sichtbar, an welchen Stellen Bedarf an einer Reform der Reform besteht und welche Ziele des Bologna-Prozesses zu hinterfragen sind.

An vielen Fachbereichen machen die Lehrenden die Erfahrung, dass studienbegleitende Prüfungen nach jedem Lehrmodul und die Komprimierung der für die physikalische Grundlagenbildung erforderlichen Lehrinhalte in das sechssemestrige Bachelorstudium die Studierenden stark belasten. Zugleich steht die in den letzten Jahren reduzierte personelle Ausstattung der Physikfachbereiche einer intensiveren Betreuung der Studierenden entgegen. Daher wird die Abbrecherquote durch die gestuften Studienabschlüsse vermutlich nicht sinken.

Zudem ist ungewiss, wie der Arbeitsmarkt Absolventen aufnehmen wird, die mit dem Bachelor in Physik die Universität verlassen. „Bachelors welcome!“ verheißen Industrie- und Wirtschaftsverbände, doch ob junge Menschen, die ein aus Sicht der DPG nur bedingt berufsbefähigendes Physikstudium abgeschlossen haben, angemessene Perspektiven erhalten, wird sich erst zeigen müssen.
Schließlich gibt es Aspekte im Bologna-Prozess, die die Substanz und Qualität der Forschung in Deutschland gefährden: Die Promotion gilt in den Natur- und Ingenieurwissenschaften in Deutschland als die erste Phase selbstständiger wissenschaftlicher Berufstätigkeit. Als „dritter Zyklus“ der akademischen Ausbildung droht ihr jedoch eine Verschulung und damit der Verlust ihrer Reputation. Zu dieser Frage haben DPG und KFP – deren Sprecher Gerd Ulrich Nienhaus zugleich im Vorstand der DPG für den Bereich Bildung und wissenschaftlicher Nachwuchs verantwortlich ist – wiederholt kritisch Position bezogen, zuletzt unmittelbar vor der Konferenz von Leuven in einer breiten Allianz mit Vertretern der Natur- und Ingenieurwissenschaften in Deutschland. Die Bezeichnung von Promovierenden als „early stage researchers“ im Abschluss-Communiqué der Leuven-Konferenz lässt hoffen, dass unsere Botschaft angekommen ist. Denn ohne die in dieser Phase erworbene Fähigkeit der Promovenden, unter hohem Leistungs- und Wettbewerbsdruck selbstständig Leistungen zu erbringen, kommen weder der Wissenschaftsbetrieb noch die Wirtschaft aus.

Eine vergleichende Studie der European Physical Society deutet an, dass der Weg zu einem europäischen Hochschul- und Forschungsraum in der Physik noch sehr weit ist. DPG und KFP werden den Bologna-Prozess weiterhin kritisch und konstruktiv begleiten, um Qualität und Ansehen der Studienabschlüsse und der Promotion im Fach Physik an deutschen Universitäten auf international höchstem Niveau zu bewahren.

Quelle: Physik Journal, Juni 2009, S. 3

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