07.09.2006

Vorübergehende Turbulenzen

Turbulente Rohrströmungen werden irgendwann von selbst wieder laminar.

 


Turbulente Rohrströmungen werden irgendwann von selbst wieder laminar.

Wie Flüssigkeiten durch Rohre strömen, ist eine Frage von großer praktischer Bedeutung, die zugleich interessante theoretische Probleme aufwirft. Wenn Flüssigkeiten oder Gase durch Pipelines, das Blut durch die Arterien oder die Atemluft durch die Luftröhre strömt - immer geht es um einen möglichst effektiven und störungsfreien Transport. Jedoch bei einer zu großen Strömungsgeschwindigkeit wird die gleichförmige „laminare“ Strömung turbulent und der Transport wird behindert. Jetzt haben Forscher der Universitäten Manchester, Delft und Marburg herausgefunden, dass bei der Rohrströmung die Turbulenz nur ein vorübergehendes Phänomen ist, das von selbst wieder verschwindet und sich möglicherweise steuern lässt.

Wie sich die Turbulenz in der Rohrströmung entwickelt, hatte schon der britische Physiker Osborne Reynolds im Jahre 1883 experimentell untersucht. Er ließ aus einem Vorratsbehälter Wasser gleichmäßig durch ein horizontales Glasrohr strömen. Das Verhalten der durch den Wasserdruck getriebenen Strömung machte er sichtbar, indem er in die Mitte des Rohres einen feinen Tintenstrahl injizierte. Der Tintenfaden wurde von der Strömung mitgerissen. Für eine nicht zu große Strömungsgeschwindigkeiten U war die Strömung laminar und der Faden blieb intakt. Oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit Uc wurde der Tintenfaden nach kurzer Wegstrecke verwirbelt: Die Strömung war turbulent geworden. Knapp oberhalb Uc wechselten sich laminares und turbulentes Verhalten bisweilen in rascher Folge ab.

Reynolds kam zu dem Schluss, dass die Form der Strömung im Wesentlichen nur von einer dimensionslosen Zahl abhing, die ihm zu Ehren als Reynolds-Zahl Re bezeichnet wird. Sie ist das Verhältnis aus mittlerer Strömungsgeschwindigkeit U, Rohrdurchmesser d und kinematischer Viskosität ν der Flüssigkeit: Re=Ud/ν. Tatsächlich hängt der kritische Wert Rec, bei dem Turbulenz auftritt, jedoch stark vom jeweiligen Experiment ab. So hatte Reynolds für Rec nahezu 13000 gefunden, doch normalerweise setzt die Turbulenz schon bei Re=2000 ein. Sie wird durch Unregelmäßigkeiten in der zunächst laminaren Strömung oder Unebenheiten der Rohrwand verursacht. Macht man diese Störungen möglichst klein, so kann man für Rec Werte von 100000 erreichen.

Das Auftreten der Turbulenz in der Rohrströmung gibt indes einige Rätsel auf. Der Übergang von der laminaren zur turbulenten Strömung ist abrupt. Wie eine Stabilitätsanalyse zeigt, ist die laminare Rohrströmung streng genommen für beliebig großes Re stabil! Die laminare Strömung kann also nur durch Störungen, die eine Mindestgröße haben, turbulent werden. Allerdings reichen für großes Re praktisch schon sehr kleine Störungen aus. Björn Hof und seine Kollegen hatten vor zwei Jahren in der turbulenten Rohrströmung transiente wellenförmige Modulationen beobachtet, die instabil waren. Irgendetwas Ungewöhnliches ging hier vor.

Man kann sich das Verhalten der Strömung mit Hilfe des Phasenraums veranschaulichen, in dem jeder Punkt einem Strömungszustand entspricht. Die laminare Strömung ist demnach ein Fixpunkt der Strömungsdynamik. Für Strömungen, die durch Temperaturgradienten oder Zentrifugalkräfte getrieben werden, wird dieser Fixpunkt bei einem bestimmten Wert von Re instabil und es entwickelt sich schließlich ein seltsamer Attraktor, auf dem sich der Zustandpunkt der turbulent gewordenen Strömung chaotisch bewegt. Bei der druckgetriebenen Rohrströmung hingegen bleibt der laminare Fixpunkt für beliebig großes Re stabil und es entwickelt sich kein seltsamer Attraktor. Stattdessen entsteht ein „seltsamer Sattelpunkt“. Wird der laminare Zustand gestört, so wird er zunächst von diesem instabilen Fixpunkt der Dynamik angezogen und durchläuft eine chaotische Folge von turbulenten Zuständen, in denen aber immer wieder die genannten regelmäßigen Wellenmuster aufblitzen. Doch schließlich entfernt sich der Zustandspunkt wieder vom seltsamen Sattel und kehrt in den laminaren Fixpunkt zurück. Die Turbulenz sollte demnach nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Genau das haben Björn Hof und seine Kollegen jetzt beobachtet.

Sie haben Wasser durch ein 30 m langes Rohr mit einem Innendurchmesser von 4 mm strömen lassen. Die sich einstellende laminare Strömung konnten sie durch kleine Löcher stören, die in unterschiedlicher Entfernung vom Rohrende seitlich in der Rohrwand angebracht waren. Flussabwärts von einer Störung entwickelte sich daraufhin ein turbulenter Bereich, durch den die Strömungsgeschwindigkeit verringert wurde. An der Form des Wasserstrahls, der am Ende des Rohres austrat, ließ sich die Strömungsgeschwindigkeit direkt ablesen. Auf diese Weise konnten die Forscher erkennen, ob der durch die Störung erzeugte turbulente Strömungsabschnitt das Rohrende erreicht hatte oder ob die Strömung wieder laminar geworden war.

Die Forscher haben das Experiment für unterschiedliche Werte der Reynolds-Zahl und der Laufzeit t der turbulenten Bereiche im Rohr so oft wiederholt, bis sie eine Statistik über die Überlebenswahrscheinlichkeit P(Re,t) der Turbulenz hatten. Sie fanden, dass P(Re,t) stets kleiner als 1 war und sich mit zunehmendem Re nur asymptotisch diesem Grenzwert näherte. Die Turbulenz hatte also stets eine endliche Lebensdauer. Die Überlebenswahrscheinlichkeit folgte einem exponentiellen Gesetz, wie man es vom radioaktiven Zerfall kennt: P(t,Re) = exp(-t/T(Re)). Die Zerfallszeit T(Re) ihrerseits wuchs exponentiell mit der Reynolds-Zahl an. Sie war also stets endlich, konnte aber extrem groß werden. Um z. B. den Zerfall der Turbulenz in einem Gartenschlauch (Re=2400) zu beobachten, müsste man sehr lange warten und den Schlauch deshalb etwa 40000 km lang machen.

Dass das transiente Verhalten der turbulenten Rohrströmung von einem seltsamen Sattelpunkt beherrscht wird, eröffnet die Möglichkeit, die Turbulenz durch beliebig kleine und wohldosierte Störungen zu steuern – und auch zu einem vorzeitigen Ende zu bringen. Eine ähnliche Kontrolle einer chaotischen Dynamik hatte man 1985 eingesetzt, um den künstlichen Satelliten ISEE-3 mit minimalem Treibstoffverbrauch zum weit entfernten Kometen Giaccobini-Zinner zu lenken. Vielleicht kann man in ähnlicher Weise durch gezielte Störungen turbulente Rohrströmungen wie mit Zauberhand wieder laminar machen. Die Turbulenz bleibt ein aufwühlendes Forschungsgebiet.

Rainer Scharf

 

Weitere Infos

 

Originalveröffentlichung:

Graphik:

  • Credit: Bjoern Hof und http://burtonini.com (Ross Burton).

Weitere Literatur: 

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