Waldbrand im Rydberg-Modell
Gas aus Rydberg-Atomen dient als vielseitiges Modell für Nichtgleichgewichts-Phasenübergänge.
Selbstorganisierte Dynamik spielt in den unterschiedlichsten Bereichen komplexer Systeme eine entscheidende Rolle – von der Physik über die Biologie und Erdwissenschaften bis hin zu sozialen und ökonomischen Systemen. Die experimentelle Modellierung selbstorganisierter Systeme ist allerdings häufig dadurch beschränkt, dass sich nicht ohne Weiteres Systeme finden lassen, deren Parameter sich über einen hinreichend großen Bereich einstellen lassen. Das erschwert die Ermittlung emergenter Eigenschaften. Ein internationales Forscherteam um Dong-Sheng Ding vom Key Laboratory of Quantum Information, University of Science and Technology of China in Hefei, hat nun ein neuartiges selbstorganisiertes System auf der Basis von stark miteinander wechselwirkenden Rydberg-Atomen vorgestellt. Damit lassen sich Nichtgleichgewichts-Phasenübergänge untersuchen. Dank der hohen Empfindlichkeit des Systems lässt sich das gesamte Phasendiagramm darstellen, auch in der Nähe des kritischen Punktes.
Selbstorganisierte Systeme weisen eine Reihe besonderer Eigenschaften auf. Dazu gehört nicht nur das Zusammenspiel von Energiezufuhr und Dissipation mitsamt einer möglichen Strukturbildung. Es lassen sich auch Phänomene wie selbstorganisierte Kritikalität beobachten – auch wenn die Theorie dahinter noch durchaus kontrovers diskutiert wird. Denn selbst vergleichsweise einfache physikalische Systeme lassen sich nicht ohne Weiteres klar genug charakterisieren, um eine selbstorganisierte Kritikalität darzustellen, bei der sich Phasenübergänge studieren lassen. Die Forscher um Ding haben sich mit ihrem System genau dieser Aufgabe gestellt. Sie nutzten ein Gas aus Rubidium-Atomen, das in einer kleinen Zelle eingeschlossen war. Den Zustand der Rubidium-Atome manipulierten sie mit Hilfe passender Laserstrahlen, wobei sie ein Schema aus drei Zuständen nutzen: Neben dem Grundzustand konnten sie die Atome in einen kurzlebigen, angeregten Zustand bringen oder in einen langlebigen, hochangeregten Rydberg-Zustand. Die Wechselwirkung zwischen Rydberg-Atomen erzeugte dabei eine starke dynamische Nichtlinearität, wie sie bei selbstorganisierten Prozessen entscheidend ist.
Vor allem zur Erforschung der selbstorganisierten Kritikalität ist es nun wichtig, dass eine Nichtgleichgewichtsdynamik einen Phasenübergang ins Rollen bringt. In einem thermischen Rydberg-Gas kann dies durch dipolare Wechselwirkungen oder durch ionisierende Kollisionen mit Elektronen, Ionen oder anderen Atomen geschehen. In jedem Fall tritt eine lawinenartige Verstärkung oberhalb einer bestimmten Rydberg-Dichte ein. Dadurch lassen sich zwei Phasen beobachten: eine nichtinteragierende Phase bei geringer Rydberg-Dichte und eine stark wechselwirkende bei hoher Rydberg-Dichte. Durch geschicktes Einstellen der Laserstrahlung konnten die Forscher den Übergang zwischen diesen beiden Phasen hoher und niedriger Rydberg-Dichte in hohem Detail untersuchen. Wie sich herausstellte, reagierten die Phasenübergänge sehr empfindlich auf Fluktuationen bei den atomaren Wechselwirkungen.
Dieses Rydberg-Modell weist eine sehr interessante Analogie auf, die man auf den ersten Blick nicht erwartet hätte: Auch Waldbrände folgen ähnlichen Mustern. Bei der Modellierung solcher Ereignisse benötigt man mehrere Parameter. In einem typischen, verallgemeinerten Modell wachsen Bäume mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf einer bestimmten Fläche. Wenn nun bei einem Gewitter Blitze – ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – an einigen Orten Feuer auslösen, dann brennen dicht beieinander stehende Bäume am schnellsten ab. Auf diese Weise entstehen wieder freie Flächen. Über längere Zeit gesehen stehen so das Wachstum von Bäumen und ihre Zerstörung in einem gewissen Gleichgewicht. Das führt dazu, dass Baumgruppen in einem Wald einen Bereich von Größen abdecken, der einem Potenzgesetz folgt.
Übersetzt in das Modell der Rydberg-Atome bedeutet das: Die Laseranregung eines Atoms entspricht dem Wachstum eines Baumes. Hin und wieder erreicht eine Ansammlung von Atomen aber eine so hohe Dichte, dass sie und die benachbarten Atome in den Grundzustand herunterpurzeln. Das entspricht einem Blitzschlag, der die am dichtesten bewaldeten Baumgruppen niederbrennt. Die Forscher simulierten ein solches selbstorganisierendes Waldbrand-Modell und konnten feststellen, dass es bei passender der Wahl der Wahrscheinlichkeiten für Baumwachstum und Blitzschlag die Dichte der Rydberg-Atome im Experiment gut wiedergab.
Da sich die Parameter im Experiment über einen weiten dynamischen Bereich einstellen lassen, könnten die Rydberg-Atome aber auch für die Modellierung vieler anderer Systeme infrage kommen. So lässt sich nicht nur bei Waldbränden, sondern auch bei vielen anderen selbstorganisierten Systemen ein Rauschspektrum identifizieren, das reziprok zur Frequenz skaliert. Dieses Rauschverhalten findet sich nicht nur etwa bei Haufen aus granularer Materie, sondern auch bei Erdbeben, beim Herzrhythmus und sogar bei Aktienkursen. Optisch angeregte Rydberg-Atome könnten sich als vielseitiges, vergleichsweise einfaches und gut zu kontrollierendes Modell erweisen, wenn es darum geht, die universellen und nicht-universellen Eigenschaften solcher selbstorganisierten Prozesse in der Nähe kritischer Punkte und bei Phasenübergängen zu untersuchen.
Dirk Eidemüller
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
D.-S. Ding et al.: Phase Diagram and Self-Organizing Dynamics in a Thermal Ensemble of Strongly Interacting Rydberg Atoms, Phys. Rev. X 10, 021023 (2020); DOI: 10.1103/PhysRevX.10.021023 - Key Laboratory of Quantum Information, University of Science and Technology of China, Hefei
Weitere Beiträge
- P. Bak et al.: Self-organized criticality: An explanation of the 1/f noise, Phys. Rev. Lett. 59, 381 (1987); DOI: 10.1103/PhysRevLett.59.381
- S. Helmrich et al.: Signatures of self-organized criticality in an ultracold atomic gas, Nature 577, 481 (2020); DOI: 10.1038/s41586-019-1908-6
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