Wasser im Attoblick
Erstes Röntgen-Attosekunden-Experiment an Flüssigkeit gibt neuen Einblick in molekulare Eigenschaften von Wasser.
Ein internationales Team hat zum ersten Mal ein Attosekunden-Experiment mit einem Freie-Elektronen-Röntgenlaser an flüssigem Wasser durchgeführt. Die Ergebnisse könnten unser Verständnis des Verhaltens von Wasser verändern. Das Experimentteam unter der Leitung der Wissenschaftlerin Linda Young vom Argonne National Laboratory in den USA entdeckte ein ungewöhnliches Signal, als es flüssiges Wasser mit Röntgenblitzen untersuchte, die einige hundert Attosekunden dauerten.
Ein Theorieteam unter der Leitung von Robin Santra, leitender Wissenschaftler am Forschungszentrum DESY und Professor an der Universität Hamburg in Deutschland, und Xiaosong Li, Professor an der University of Washington in den USA, setzte für die Analyse quantenmechanische Methoden ein. Anhand der Daten des neuen Experiments stellten sie fest, dass eine bedeutende Messung der Struktur von flüssigem Wasser falsch interpretiert worden ist. Die Auswirkungen dieses Ergebnisses zeigen nicht nur das Potenzial der Attosekunden-Forschung an kondensierter Materie mit Röntgenlasern, die bisher beispiellos ist, sondern könnten auch ein Umdenken darüber erforderlich machen, wie eine Vielzahl von Molekülen jenseits von Wasser, insbesondere organische Moleküle, strukturiert sind.
Wassermoleküle sind in vielerlei Hinsicht besonders: Durch ihre Form und die Art und Weise, wie ihre Elektronen verteilt sind, hat jedes Wassermolekül zwei elektrische Pole. Diese Polarität ermöglicht es dem Wasser, sich elektrisch mit anderen Wassermolekülen und anderen, ähnlich polaren Molekülen zu verbinden. Diese Anziehungskraft, die Wasserstoffbrückenbindung, und die Struktur zwischen den Molekülen, die die Wasserstoffbrücken bilden, sind entscheidend für das Verständnis des einzigartigen Verhaltens von Wasser und seiner chemischen Reaktionen, einschließlich der Prozesse, die für das Leben unerlässlich sind. Die Wissenschaftler können diese Strukturierung mithilfe der Röntgenemissionsspektroskopie (XES) beobachten. Bei der XES wird eine Substanz mit Röntgenstrahlen bestrahlt und setzt dann selbst Röntgenstrahlen frei, die Informationen über die molekulare Struktur der Substanz und ihren chemischen Bindungen übermitteln.
Parallel dazu haben Wissenschaftler Techniken entwickelt, bei denen Laser eingesetzt werden, um Phänomene zu untersuchen, die über die Möglichkeiten der XES hinausgehen – ein Bereich, der als Attosekunden-Wissenschaft bezeichnet wird und der im Jahr 2023 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Dem von Linda Young geleiteten Experimentierteam, das den LCLS-Röntgenlaser am SLAC National Accelerator Laboratory in den USA nutzte, gelang es, mithilfe von Röntgen-Attosekunden-Pulspaaren, bei denen die Pulse innerhalb des Paares einige hundert Attosekunden voneinander entfernt waren, ein Signal zu finden, das im Widerspruch zu XES-Daten steht, die als Hinweis auf zwei unterschiedliche molekulare Anordnungen in Wasser interpretiert wurden. Zum ersten Mal wurden Attosekunden-Röntgenlaserpulse zur Untersuchung von nicht-gasförmiger Materie eingesetzt.
Um ihr ungewöhnliches Ergebnis zu erklären, setzte sich Youngs Team mit theoretischen Physikern zur Berechnung und Modellierung der Vorgänge in Verbindung. Santra, Leiter der Theoriegruppe am Center for Free Electron Laser Science (CFEL) bei DESY, zog eine Hypothese in der Fachwelt unter Betracht, dass Wasserstoffatome im Wasser der entscheidende Faktor sein könnten. „Wenn Röntgenstrahlen Wasser durchdringen, können die Wasserstoffatome, die sehr leicht sind, in Bewegung geraten“, sagt Santra. „Diese Bewegung könnte das sein, was bei der XES-Messung erfasst wurde, und nicht zwei verschiedene molekulare Anordnungen.“
Santras Team erstellte ein Modell, um zu untersuchen, wie das Experiment auf der Ebene der Elektronen abgelaufen ist. Im Gegensatz zu den XES-Messungen, bei denen die Röntgenstrahlen ein niederenergetisches inneres Elektron herausschlagen und ein höherenergetisches äußeres Elektron dafür an seine Stelle tritt, wodurch sich die Wasserstoffatome bewegen, führte das LCLS-Experiment genau zum Gegenteil: Ein inneres Elektron bewegte sich weiter nach außen. Das theoretische Modell von Santras Team zeigte, dass dieser Unterschied den Wasserstoff daran hinderte, sich zu bewegen, und dass der Attosekunden-Takt schneller war als jede Bewegung des Wasserstoffs. „Dies wirkte wie ein Schalter, der die Bewegung des Wasserstoffatoms ‚ausschaltet‘“, sagt Swarnendu Bhattacharyya, einer der Erstautoren der Arbeit und Postdoc in Santras Gruppe.
„Im Prinzip können wir die Existenz von zwei molekularen Anordnungen nicht ausschließen. Allerdings entsprechen sie nicht dem, was in der XES-Messung beobachtet wird“, sagt Santra. „Die Bewegung der Wasserstoffatome im Wassermolekül erzeugt diesen Effekt.“ Wenn ein solcher Effekt bei XES-Messungen zu einem fehlerhaften Ergebnis führt, könnte dies bedeuten, dass dieses grundlegende Instrument zur Untersuchung der Struktur von Materie neu bewertet werden muss. Dies wäre besonders wichtig für das künftige Verständnis von Substanzen, die reich an Wasserstoff sind – darunter vor allem Kohlenwasserstoffe, aus denen fast alle Moleküle in Lebewesen, fast alle von uns verwendeten Kraftstoffe und für die Industrie und das tägliche Leben wichtige Chemikalien bestehen.
„Dieses Experiment öffnet die Tür zur Attosekunden-Röntgenlaserforschung“, sagt Santra. Bislang wurde die Attosekundenforschung hauptsächlich mit optischen Lasern an Gasproben durchgeführt. „Mit den Techniken der Attosekundenforschung mit optischen Lasern wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. Jetzt hat das Team einen Weg aufgezeigt, wie man Attosekunden-Techniken für kondensierte Materie mit viel hellerem Licht anwenden kann. Das hat bereits eine potenziell wichtige Erkenntnis über unser Verständnis von Materie gebracht – dass wir mit XES-Messungen möglicherweise nicht das ganze Bild der Materie, wie sie in der Natur existiert, erhalten.“
DESY / DE