04.03.2003

Weiche Materie - ein dynamisches Forschungsgebiet

So unterschiedlich Autoreifen, Kontaktlinsen, Flüssigkristalle oder CD-ROMs auf den ersten Blick auch sein mögen, für den Materialforscher haben sie eines gemeinsam: Alles ist weiche Materie. Roland Wengenmayr beschreibt, wie intensiv diese riesige Materialklasse derzeit erforscht wird. Mit vielen Links zu Volltextartikeln.

Weiche Materie: ein dynamisches Forschungsgebiet

Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit: Diese großen Epochen der menschlichen Kultur tragen die Namen harter, kristalliner Werkstoffe. Bei ihrer Epochentaufe übersahen die Archäologen allerdings die weichen Materialien. Wegen deren Vergänglichkeit ist diese Zurückhaltung zwar verständlich - doch sie unterschlägt die enorme Bedeutung weicher Materialien für die menschliche Kultur. Aus Leder und Naturfasern entstehen seit Jahrtausenden Kleidung, Seile, Segel und viele andere, lebenswichtige Gegenstände. Nicht von ungefähr trägt eine der wichtigsten Handelsrouten der Menschheit den Namen eines weichen Materials, einer edlen Naturfaser mit erstaunlichen Materialeigenschaften: die Seidenstraße.

Das Informationszeitalter ist eine Weiche-Materie-Epoche
Heute leben wir in dem Zeitalter der Weichen Materie schlechthin. Kunststoffe sind allgegenwärtig, als treibender Plastikmüll haben sie sogar die entferntesten Meereswinkel erreicht. Doch sie sind auch ein Segen für unsere Kultur dank ihrer unterschiedlichsten Eigenschaften - vom extrem reißfesten Autogurt bis zur Kontaktlinse, die weich ist und dennoch als präzise, glasklare Optik funktioniert. Die Informationsgesellschaft kann die Information nur deshalb als Rohstoff verwenden, weil Kunststoffe deren Speicherung und massenhafte Verbreitung ermöglichen: Ohne lichtempfindliche Lacke gäbe es keinen Mikrochip, Filme speichern Photos, analoge oder digitale Information aller Art findet auf Magnetbändern, CD-ROMs oder Minidiscs immer mehr Platz.

Meisterin der weichen Materie ist die Natur
Zu wahrer Meisterschaft in der Erfindung weicher Materialien hat es die Natur gebracht. Jeder lebende Organismus "baut" hoch komplexe Strukturen aus weicher Materie. Das Raffinierte dabei: Oft organisieren sich die Moleküle von selbst zu größeren Bausteinen. Ein Beispiel sind die Membranen lebender Zellen. Sie müssen die Zelle durch ihre Festigkeit stabilisieren und zugleich flexibel sein. Wie ein Schott müssen sie das Zellinnere vor einer Umgebung schützen, die chemisch aggressiv sein kann. Trotzdem müssen sie für viele Substanzen durchlässig sein, damit die Zelle lebenswichtige Stoffe mit ihrer Umwelt austauschen kann.

Es ist also kein Wunder, dass immer mehr Wissenschaftler sich der Erforschung weicher Materie zuwenden - und dabei der Natur ihre Tricks abschauen wollen. Dieses dynamische Forschungsgebiet ist so interdisziplinär wie kaum ein zweites: Es vereint Biologie, Chemie, Materialwissenschaften und Physik.

Harte Naturwissenschaft mied lange weiche Materie
Die Physikergemeinde hat lange gezögert, sich auf die Welt der Weichen Materie einzulassen. Manche Physiker wie Wolfgang Ostwald beschäftigten sich zwar schon im frühen 20. Jahrhundert mit Kolloiden, Polymeren, komplexen Flüssigkeiten und dergleichen. Doch das Gros wandte sich lieber der neuen Welt der Atome und Teilchen oder den harten, kristallinen Festkörpern zu - oder gleich kosmischen Dimensionen.

Der Damm brach erst, als 1991 Pierre-Gilles de Gennes den Nobelpreis für Physik erhielt. Der brilliante französische Theoretiker hatte das "Reptationsmodell" entworfen, das das Verhalten langer Polymermoleküle in Polymerschmelzen beschreibt. Heute sind viele Physikerinnen und Physiker von den Möglichkeiten fasziniert, die die Erforschung von Weiche-Materie-Systemen bietet. Wachsende Forschungsbudgets beflügeln dieses Gebiet: Es verspricht neben grundlegenden Erkenntnissen auch die Entwicklung revolutionärer High-Tech-Materialien für verschiedenste Anwendungen.

Angesichts dieser Entwicklung kommt Peter Schurtenberger zu einem positiven Fazit. Der Leiter der Soft Condensed Matter Physics Group der Universität Fribourg schreibt in seinem Editorial für Heft 1/2003 der Physik in unserer Zeit: "Aus dem hässlichen Entlein Kolloidforschung ist ... der schöne Schwan Physik der Weichen Materie geworden." \[1\]

Was charakterisiert Weiche Materie?
Was ist weiche Materie? Es gibt keine einfache Antwort angesichts der ungeheuren Vielfalt weicher Materialien. Sie umfasst Kolloide, Amphiphile, Polymere, Flüssigkristalle und die Welt der Membranen und Mikroemulsionen. Allen gemein ist die Eigenschaft "weich", also ihr geringer Widerstand gegen mechanische Kräfte. Das gilt allerdings nicht immer: Polymerfasern zum Beispiel lassen sich zwar leicht verknäulen, manche können aber höheren Zugkräften standhalten als Stahldrähte gleicher Dicke.

Erst im Laufe der Zeit wurde den Forschern klar, dass in der Welt der weichen Materie einige universelle Gesetze gelten, die eine Einordnung so verschiedener Materialien unter diesem Oberbegriff rechtfertigen. Gerhard Gompper, Dieter Richter und Jan Dhont, Institutsleiter am Institut für Festkörperforschung (IFF) des Forschungszentrums Jülich, erklären in ihrem Artikel "Komplexe Materialien auf Mesoskopischer Skala" im aktuellen Heft der Physik in unserer Zeit \[2\] mit einer einfachen Abschätzung, warum weiche Materie denn weich ist: Der entscheidende Faktor ist die Größe der Bausteine, aus dem das Material besteht - nicht die Kräfte zwischen diesen Bausteinen. Ein Kristall aus Kolloiden (hier große Moleküle) ist demnach viel weicher als ein Kristall aus Atomen, weil seine Gitterbausteine Zehntausend mal größer sind (Abb. 1).



Abb. 1: Elektronenmikroskopische Aufnahme eines kolloidalen Kristalls aus Silica-Kügelchen mit einem Durchmesser von je 100 Nanometern (Milliardstel Meter) \[2\].

Das Zwischenreich der mesoskopischen Skala
Das Beispiel des Kolliodkristalls weist auf eine Besonderheit hin, die für alle weichen Materialien charakteristisch ist. Denken wir uns ein Mikroskop mit einem Super-Zoom: In der größten Vergrößerungsstufe soll es einzelne Atome von einigen Zehntel Nanometern (Milliardstel Meter) auflösen können, in der kleinsten die Strukturen eines Elektronikchips.

Beim Zoomen aus der Mikrowelt der Atome hinauf in die Makrowelt könnten wir Folgendes beobachten. Ein normaler Kristall aus Atomen oder eine Flüssigkeit aus einfachen, kleinen Molekülen zeigt bei Längenskalen oberhalb von Nanometern, wo einzelne Atome nicht mehr sichtbar sind, keine besonderen Muster oder Strukturen. Weiche-Materie-Systeme offenbaren dagegen hier ihr wahres Gesicht: Auch auf einer Skala von Nanometern, zehn Nanometern und vielleicht noch größeren Längen zeigen sie eine charakteristische Struktur, die jeweils vom Material abhängt. Jede dieser Strukturen hat Einfluss auf die Materialeigenschaften. Dieses komplexe Zusammenspiel über mittlere, "mesoskopische" Längenskalen hinweg ist eine entscheidende, universale Eigenschaft aller Weiche-Materie-Systeme.

Eine Mikroemulsion ist ein typisches Weiche-Materie-System


Abb. 2: Links: Strukturen einer Mikroemulsion aus Öl und Wasser auf drei verschiedenen Nanometer-Skalen. Rechts: auf dem Computer simulierte Struktur einer Mikroemulsion \[2\].

Abbildung 2 zeigt schematisch das charakteristische Zusammenspiel der Strukturen einer Mikroemulsion auf verschiedenen Längenskalen. Ganz oben auf der kleinsten, atomaren Skala sind die einzelnen Molekülkomponenten der Mikroemulsion zwischen Wasser und Öl sichtbar: links die blau gefärbten Wassermoleküle, rechts die Ölmoleküle mit den grünen Atom-Punkten. In der Mitte sitzen die Moleküle des Emulgators, die eine Verbindung zwischen den beiden eigentlich nicht mischbaren Phasen herstellen.

Die 1-nm-Skala im mittleren Bild ist schon so groß, dass einzelne Moleküle nicht mehr sichtbar sind. Sie zeigt unterschiedliche Gebiete, in denen jeweils eine der Komponenten dominiert. Wechseln wir die nun Vergrößerungsstufe hinauf in die 10-nm-Skala, dann sehen wir eine relativ gleichmäßige Schicht mit mäandernden Zonengrenzen. Auf dieser Skala spielen die lokalen Kräfte zwischen einzelnen Molekülen nur noch ein verborgene Rolle: Die Schicht verhält sich hier wie eine kontinuierliche mathematische Fläche, deren Eigenschaften vor allem durch die Elastizität des Materials bestimmt werden. Ein gutes theoretisches Modell der Mikroemulsion muss alle drei Längenskalen berücksichtigen.

Vielfältige Forschung
Wie die Materialien selbst, so sind natürlich auch die Grundlagenforschung und die verschiedenen Anwendungen extrem vielfältig. In "Eine Welt zwischen Fest und Flüssig" bringen Gerhard Gompper und seine Jülicher Kollegen einige typische Beispiele aus der aktuellen Grundlagenforschung - etwa die Mikroemulsionen \[3\]. Dazu stellen sich die Forscher die Frage: Wie verändern bestimmte Substanzen die Grenzfläche zwischen zwei nicht mischbaren Flüssigkeiten, so dass sie eine Emulsion bilden? Die Jülicher Physiker zeigen, dass "amphiphile Block-Copolymere" genau das besonders effektiv können.

Interessanterweise können amphiphile Block-Copolymere auch die "Mischung" festerer Stoffe anregen, die das eigentlich nicht wollen: zum Beispiel organische Polymere mit harten, anorganischen Substanzen. Forscher am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz nutzen diese Fähigkeit, um durch eine raffinierte chemische Synthese winzige, gleichmäßig geformte Weiche-Materie-Objekte herzustellen: Nanokugeln, Nanozylinder oder Nanoquader \[4\].

Eine wachsende Forschergemeinde interessiert sich für die Oberfläche solch kleiner Objekte. Das gilt vor allem für Membranen aus Weicher Materie, die in ihrem Grundaufbau den biologischen Zellmembranen ähneln. Am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Golm untersucht der theoretische Physiker Reinhard Lipowsky mit seiner Arbeitsgruppe solche Objekte auf dem Computer: Seine simulierten "Vesikel" sind einfache Modellsysteme biologischer Zellen. An ihnen können die Golmer Biophysiker erforschen, wie lebende Zellen "Knospen" ausbilden - oder als Einzeller in Flüssigkeiten schwimmen \[4\].

Sein Kollege, der Chemiker Helmuth Möhwald, hat mit seinen Mitarbeitern ein Verfahren entwickelt, Nanokapseln aus Polymerschichten herzustellen. Sie könnten eines Tages zum Beispiel Medikamente durch die feinsten Blutgefäße des Körpers transportieren \[4\]. Diese Polymer-Nanokapseln liefern auch das Gerüst für relativ "simple" Nachbauten biologischer Zellen, um im Labor mehr über die Funktion echter Zellmembranen zu lernen.

Von der Reifenentwicklung bis zum Kunststoff-Display
Bodenständig im wahrsten Sinne des Wortes ist die Arbeit des theoretischen Physikers Bo Persson am Jülicher IFF: Er modelliert den Kontakt zwischen einem weichen und einem harten Material. In der Natur spielt er eine elementare Rolle: Wann immer ein Insekt, ein Gecko oder ein größeres Tier über harte Untergründe wie Steine (oder sogar Glas) läuft, trifft weiche auf harte Materie. Mittlerweile profitieren auch technische Anwendungen von Perssons Arbeit. Mit seinem Modell kann die Reifenindustrie viel gezielter und damit billiger neue Gummimischungen auf die gewünschten Eigenschaften testen \[5\].

Neue, weiche Materialien dringen auch in Domänen vor, die bislang harten Halbleitern vorbehalten sind. "Organische" Elektroniken auf Polymerbasis versprechen zum einen billige, elektronische Schaltungen auf Folien, wie Wolfgang Clemens und Walter Fix in ihrem Beitrag "Vom organischen Transistor zum Plastik-Chip" im Physik Journal beschreiben \[6\]. Zum anderen zeigt der Physiker Michael Kiy aber auch in einem Artikel für Physik in unserer Zeit, wie Displays und Bildschirme auf Folienbasis funktionieren, die vielleicht schon bald den Handy-Markt erobern \[7\].


Jacken mit eingebauter Folien-Elektronik?
Werden wir bald Jacken tragen, in die Bildschirme, Solarzellen, Handys und andere Elektroniken auf Plastikfolien integriert sind? Oder Chips, die automatisch Türen öffnen? Werden "intelligente" Materialien eines Tages wie biologische Gewebe funktionieren? Bei aller Spekulation scheint Eines sicher zu sein: Die Forschung an weicher Materie wird in Zukunft nicht nur unseren Alltag verändern. Sie wird auch unser Verständnis der belebten Natur vertiefen.

Roland Wengenmayr für pro-physik.de

Literatur:

  • \[1\] Peter Schurtenberger, Editorial zum "Spezial: Weiche Materie", Physik in unserer Zeit 34 (1), 3 (2003). (PDF)
  • \[2\] Gerhard Gompper et al., "Spezial: Weiche Materie" in: Physik in unserer Zeit 34 (1), 12 (2003). (PDF)
  • \[3\] Gerhard Gompper et al., "Spezial: Weiche Materie" in: Physik in unserer Zeit 34 (1), 19 (2003). (PDF)
  • \[4\] "Harte Arbeit an weicher Materie", MaxPlanckForschung 3, 57 (2001). (PDF)
  • \[5\] "Wie Reifen auf Asphalt haften", Technische Rundschau 15, 68 (2002).
    (PDF) Mit freundlicher Genehmigung von www.technische-rundschau.ch.
  • \[6\] Wolfgang Clemens und Walter Fix, Vom organischen Transistor zum Plastikchip, Physik Journal, Februar 2003, S. 31
  • \[7\] Michael Kiy, Spezial: Weiche Materie, in: Physik in unserer Zeit 34 (1), 27 (2003). (PDF)
  • Optische Datenspeicher auf Polymer-Basis:
    V. Drach, Datenspeicher im Fokus, Physik in unserer Zeit 34 (1), 6 (2003).
  • "Nanomotoren" aus weicher Materie:
    C. Tolksdorf et al., Nanomotoren aus Flüssigkristallen, Physik in unserer Zeit 33 (3), 130 (2002).
  • Spezialheft "Organic Electronics and Photonics":
    J.-L. Brédas und S. Marder (Hrsg.), Special Issue: Organic Electronics and Photonics, in: Adv. Funct. Mater. 9, 557 (2002). 

Bücher:

  • W. Hamley, Introduction to Soft Matter, John Wiley & Sons, New York 2000.
  • M. Kleman, O. D. Lavrentovich, Order and Disorder in Soft Matter Physics. An Introduction, Springer-Verlag, Heidelberg 2002.

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