Wenn der Wind sich dreht …
Messungen über vier Jahrzehnte zeigen Veränderungen in der interstellaren Gaswolke um unser Sonnensystem.
Elektrisch neutrale Atome und Moleküle des interstellaren Gases können ungehindert von Magnetfeldern in die Heliosphäre eindringen und als interstellarer Wind das Sonnensystem durchqueren. Satelliten und Raumsonden liefern seit 1972 Daten über diesen kosmischen Fahrtwind. Da die Sonne sich mit einer Geschwindigkeit von 23,3 Kilometern pro Sekunde gegen das lokale interstellare Medium bewegt, hat sie in diesen vier Jahrzehnten etwa 200 Astronomische Einheiten zurückgelegt.
Abb.: Die nähere Umgebung des Sonnensystems mit der lokalen interstellaren Wolke und einigen hellen Sternen – die Sonne fliegt etwa senkrecht zur Bewegung der Wolke. (Bild: NASA)
Unser Sonnensystem ist in eine etwa dreißig Lichtjahre große „lokale interstellare Wolke“ eingebettet, die wiederum innerhalb der mehr als dreihundert Lichtjahre großen „lokalen Blase“ liegt. Die in vierzig Jahren zurückgelegte Strecke entspricht etwa einem Prozent der Entfernung bis zum Rand der lokalen Wolke. Über diese Distanz sind durchaus Änderungen im Zustand der interstellaren Materie zu erwarten. Tatsächlich weichen die in den Jahren 2009 und 2010 gewonnen Daten des Interstellar Boundary Explorers IBEX deutlich von den Werten ab, die in den 1990er Jahren von der Ulysses-Sonde geliefert worden waren: Die Windrichtung hat sich danach zwischen beiden Messung um 3,6 ± 0,7 Grad gedreht.
Dieser Befund motivierte Patricia Frisch von der University of Chicago und ihre Kollegen, die von früheren Missionen gesammelten Daten zu sichten und so die aus den jüngsten Messungen abgeleitete Änderung zu überprüfen. Für ihre Untersuchung konnten sie auf Messungen von acht weiteren Satelliten und Raumsonden zugreifen, darunter die Merkur-Sonde Mariner-10. Von allen diesen Missionen lagen, wie auch bei Ulysses und IBEX, Messungen der Bewegung neutraler Helium-Atome aus dem interstellaren Medium vor. Neutrale Helium-Atome sind ein ideales Werkzeug für diese Untersuchung: Sie kommen im Gegensatz zu anderen neutralen Atomen und Molekülen häufig vor, sind kaum durch die Dynamik am Rande der Heliosphäre beeinflusst und folgen daher einfachen ballistischen Kurven im Schwerefeld der Sonne, aus denen sich ihre ursprüngliche Richtung leicht rekonstruieren lässt.
Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Datentypen und ihrer Unsicherheiten finden Frisch und ihre Kollegen nicht nur eine statistisch signifikante Bestätigung der sich aus den Ulysses- und IBEX-Messungen ergebenden Winddrehung. Sie finden darüber hinaus eine Fortsetzung des beobachteten Trends über den gesamten Zeitraum von vier Jahrzehnten. Insgesamt hat sich demnach die Richtung des interstellaren Winds von 1972 bis 2010 um 6,8 ± 2,4 Grad gedreht.
Abb.: Der Satellit IBEX ist etwa so groß wie ein LKW-Reifen und untersucht mit seinen Detektoren von der Erdumlaufbahn aus die Teilchenströme von den Grenzen unseres Sonnensystems. (Bild: NASA)
Die gemessene Veränderung des kosmischen Fahrtwinds zeigt nach Ansicht der Forscher, dass die Gaswolke dynamisch aktiv ist. Als mögliche Ursache sehen sie eine nichtthermische turbulente Bewegung in einem interstellaren Gaswirbel. Langfristig hoffen die Wissenschaftler aus solchen Beobachtungen Rückschlüsse auf die Dynamik und den Ursprung der lokalen interstellaren Wolke ziehen zu können.
Rainer Kayser
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