Wenn Gläser schmelzen
Überraschende Gemeinsamkeiten beim Verhalten von glasbildenden Materialien entdeckt.
Gläser sind feste Materialien, aber ohne die normalerweise in Festkörpern vorhandene Kristallstruktur mit regelmäßiger Atomanordnung. Das Schmelzen kristalliner Materialien ist theoretisch im Rahmen des Lindemann-Kriteriums gut verstanden: Die beim Aufheizen zunehmend stärkeren Vibrationen der Atome oder Moleküle werden irgendwann so heftig, dass sie sich aus ihrer gitterartigen, kristallinen Anordnung quasi losreißen und das Material schmilzt. Im Gegensatz dazu sind die mikroskopischen Vorgänge beim Übergang eines Glases in die Flüssigkeit noch weitgehend unverstanden, und das, obwohl Gläser zu den ältesten vom Menschen genutzten Materialien gehören.
In ihrer neuen Studie berichten nun Alois Loidl und Peter Lunkenheimer (beide Universität Augsburg) zusammen mit Kollegen aus Göttingen, Berlin und Mailand, dass die Verflüssigung von Gläsern durch zusätzliche Faktoren bestimmt wird: Zwar spielen Vibrationen auch eine Rolle. Zudem muss man aber auch berücksichtigen, dass die Bewegung der Atome oder Moleküle in der glasbildenden Flüssigkeit typischerweise kooperativ erfolgt, was den Energieaufwand für die Glasverflüssigung deutlich erhöhen kann. Den Nachweis dieses Verhaltens konnten die Wissenschaftler durch die Analyse der thermischen Ausdehnung und der Glasübergangstemperatur von mehr als 200 Gläsern und Flüssigkeiten erbringen, die in den vergangenen 100 Jahren veröffentlicht wurden.
Gläser sind von immenser technologischer Bedeutung und nahezu allgegenwärtig in unserem täglichen Leben – von wohlbekannten Anwendungen wie Behältern oder Fenstern, über Glasfasern zur Datenübertragung bis hin zu fortgeschrittenen Elektrolytmaterialien in Akkumulatoren oder Brennstoffzellen. Auch metallische Gläser mit gegenüber herkömmlichen Metallen weit überlegenen Werkstoffeigenschaften, die große Gruppe der Polymere und sogar diverse Arten biologischer Materie gehören physikalisch zur Gruppe der Gläser.
In der Regel werden Gläser durch einfaches Abkühlen aus der Schmelze hergestellt. In Gegensatz zur schlagartigen Verfestigung bei anderen Flüssigkeiten, was typisch für einen Phasenübergang ist, erstarren Glasschmelzen kontinuierlich. Entsprechend erfolgt auch die Verflüssigung von Gläsern nicht abrupt. Eine weitverbreitete theoretische Sichtweise erklärt den Übergang von der Flüssigkeit in das Glas als Einfrieren der Atome oder Moleküle in zwar ungeordneten, aber wohldefinierten Positionen. Dies ist mit einer Zunahme der Kooperativität der miteinander wechselwirkenden Atome oder Moleküle beim Abkühlen verbunden.
Die erwähnten, mit ansteigender Temperatur zunehmenden atomaren Vibrationen sind auch für die thermische Ausdehnung von Festkörpern verantwortlich. Gelten die Ideen des Lindemann-Kriteriums, sollte diese umso höher sein, je geringer der Schmelzpunkt ist – eine inverse Proportionalität, die für kristalline Materialien als erfüllt gilt. In Zusammenarbeit mit ihren Kollegen Birte Riechers (Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Berlin), Alessio Zaccone (Universität Mailand, Italien) und Konrad Samwer (Universität Göttingen) konnten die Physiker an der Universität Augsburg nun nachweisen, dass ein analoger Zusammenhang zwischen Glasausdehnung und Glasübergangstemperatur nicht besteht und damit das Lindemann-Kriterium für den Glasübergang nicht gilt. Dies gelang durch die Analyse von Daten zur thermischen Ausdehnung und Glasübergangstemperatur von mehr als 200 Materialien aus teils sehr unterschiedlichen Substanzklassen wie konventionelle Silikatgläser, molekulare, ionische und metallische Gläser und Polymere. Dieses qualitativ andere Verhalten beim Verflüssigen von Gläsern konnten die Forscher auf die wachsende Zahl sich kooperativ bewegender Atome oder Moleküle zurückführen, eine typische Eigenschaft glasbildender Flüssigkeiten bei Annäherung an den Glasübergang.
Der Grad an Kooperativität der Teilchenbewegung unterscheidet sich von Glas zu Glas und lässt sich mit dem Fragilitätsindex quantitativ erfassen. Teilt man die thermischen Ausdehnungskoeffizienten der verschiedenen Gläser durch ihren Fragilitätsindex, ergibt sich auch für glasbildende Materialien eine inverse Proportionalität dieser skalierten Größe mit der Glasübergangstemperatur, was den signifikanten Einfluss der Kooperativität auf den Glasübergang beweist. Dieses universelle Verhalten ermöglicht interessanterweise dann auch die Vorhersage der Glasübergangstemperatur durch Messung der thermischen Ausdehnung und umgekehrt.
Der im Rahmen dieser Forschung gesammelte riesige Datensatz enthüllt eine weitere überraschend universelle Korrelation: Die thermische Ausdehnung im flüssigen Zustand ist, ebenso wie die Ausdehnung des Glases, mit der Glasübergangstemperatur korreliert und um etwa einen Faktor drei größer als im Glaszustand eines Materials, egal zu welcher Klasse von Glasbildnern es gehört. Dies ist erstaunlich, da die Ausdehnung in beiden Materialzuständen nach allgemeiner Auffassung eigentlich von grundsätzlich verschiedenen Mechanismen bestimmt sein sollte: Vibrationen im festen Glas im Gegensatz zu dominierenden translatorischen Bewegungen in der Flüssigkeit.
„Unsere Datenanalyse zeigt, dass der Fest-flüssig-Übergang von Gläsern nicht als einfacher Schmelzvorgang angesehen werden kann, sondern dass korrelierte Bewegungen der Teilchen eine wichtige Rolle spielen“, resümiert Lunkenheimer und ist sich sicher, dass die gefundenen Universalitäten wesentlich zu einem tieferen Verständnis von so unterschiedlichen Materialien wie silikatbasierten Alltagsgläsern, amorphen Polymeren und metallischen Gläsern beitragen werden.
U. Augsburg / DE