Wenn Schnee kollabiert
Mikrostruktur zwischen Eiskristallen verleiht Schnee überraschende Stabilität.
Jeder, der schon einmal im Schnee unterwegs war, kennt das Phänomen: Vorsichtig setzt man einen Fuß vor den anderen, versucht, die Sohle möglichst gleichmäßig aufzusetzen. Der Schnee gibt ein wenig nach, aber er trägt – bis man plötzlich bis zur Hüfte in der weißen Masse steckt. „Die meisten Menschen führen das darauf zurück, dass der Schnee eine Oberflächenkruste hat, die man bei zu hoher oder falscher Belastung durchbricht“, sagt Michael Zaiser, Werkstoffwissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. „Doch diese Erklärung ist in den überwiegenden Fällen falsch.“
Abb.: Ab einer kritischen Last verliert Schnee seine Stabilität und die stützende Mikrostruktur geht von oben nach unten verloren. (Bild: M. Zaiser et al. / NPG)
Im Experiment haben Zaiser und Kollegen der Universität Edinburgh nachgewiesen, dass das plötzliche Einsinken von Gegenständen oder Personen auch bei homogenem Laborschnee auftritt, der weder eine Oberflächenkruste noch sonstige Festigkeitsunterschiede aufweist. Aufschluss über die Ursache brachte schließlich eine Hochgeschwindigkeitskamera, die den Forschern einen Blick in die Mikrostruktur des Schnees ermöglichte. „Auf den hochauflösenden Aufnahmen konnten wir sehen, dass es bei einer kritischen Last zu einem Zusammenbruch der Mikrostruktur und damit zu einem plötzlichen Festigkeitsverlust kommt“, erklärt Zaiser. „Dieser Kollaps pflanzt sich nach unten fort, und der von oben drückende Stempel sackt ab.“
Generell bietet Schnee viel Platz für eine Komprimierung: Gesetzter Schnee, der bereits ein paar Wochen liegt, besteht immerhin noch zu 70 Prozent aus Luft. Dass man hier dennoch nicht sofort einbricht, liegt an den Sinterhälsen, die sich zwischen den Eiskörnern bilden und diese auf Distanz halten. Wird der Schnee verdichtet, brechen einige dieser Brücken, und die übrigen müssen eine größere Last tragen. Ab einem kritischen Punkt geben auch die verbliebenen Eisbrücken nach und es kommt zu einem partiellen Strukturkollaps. Weil die Eiskristalle dabei verdichtet werden und somit einen größeren Widerstand bieten, sinkt man meist nicht bis zum Boden der Schneeschicht ein.
Interessant dabei ist, dass sich der Vorgang in derselben Probe wiederholen lässt: Die bereits kollabierte Schicht kann unter Belastung erneut absacken – sogar mehrfach, wenn genügend freies Volumen verbleibt. Grund dafür ist, dass sich innerhalb weniger Sekunden neue Sinterbrücken bilden, die dann erneut brechen können. „Auch das kennt man von Winterausflügen: Man läuft in den Fußstapfen seines Vorgängers, in denen der Schnee ja schon zusammengedrückt ist, und hofft damit das ständige Einbrechen zu vermeiden. Dennoch bricht man manchmal ein. Dafür muss man nicht einmal viel schwerer sein“, sagt Zaiser.
Nach der systematischen Analyse dieses Phänomens, der auch im Naturschnee bestätigt werden konnten, haben die Materialwissenschaftler nun ein Rechnermodell entwickelt, das die Vorgänge sehr genau beschreiben und reproduzieren kann. Möglicherweise können die Forscher mit ihren Ergebnissen auch einen Beitrag zur Lawinenforschung leisten: „Derselbe Prozess eines mikrostrukturellen Zusammenbruchs und damit verbundener Destabilisierung, den wir im Labor oder unter dem Bergstiefel beobachten, kann auch bei der Auslösung einer Schneebrettlawine ablaufen“, sagt Zaiser. „Der Scottish Avalanche Information Service beispielsweise nutzt etwa „Foot Penetration“, also das Fußabsacken beim Gehen, als einen Indikator zur Bestimmung des Lawinenrisikos. Inwieweit hier Zusammenhänge zu unseren Erkenntnissen bestehen, muss die weitere Forschung zeigen.“
FAU / JOL