17.04.2013

Wie Reifen haften

Bei niedrigen Geschwindigkeiten ist die tatsächliche Kontaktfläche ausschlaggebend, bei höheren dagegen die Viskoelastizität.

Der Kontakt zwischen Rad und Straße bestimmt, wie gut sich Brems- und Beschleunigungskräfte übertragen, und wirkt sich maßgeblich auf Rollwiderstand und Materialverschleiß aus. Zur Optimierung dieser Eigenschaften, die seit November 2012 durch ein neues EU-Label erkennbar sind, müssen die Hersteller in der Regel Tausende Testreifen produzieren. Berechnungen oder Simulationen könnten diesen Aufwand reduzieren. Doch die sind bislang nicht möglich. Zu vielfältig sind die auf verschiedenen Größenordnungen ablaufenden Prozesse, von der molekularen Ebene bis hin zur Verformung des gesamten Pneus.

Abb.: Apparatur zur Bestimmung der Gummireibung. (Bild: FZ Jülich)

Messergebnisse von Jülicher Forschern legen nahe, dass je nach Geschwindigkeit unterschiedliche Aspekte für die Reifenhaftung eine Rolle spielen. Mithilfe einer selbst entwickelten Apparatur haben die Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit dem Hersteller Bridgestone die Reibung von Gummireifen, auf Straßenasphalt ermittelt. „Unterhalb einer Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro Sekunde wird die Reifenhaftung vorrangig durch die sogenannte wahre Kontaktfläche bestimmt. Bei schnelleren Geschwindigkeiten ist stattdessen eher die Viskoelastizität des Gummis wichtig“, erklärt Boris Lorenz.

Für die Gummireibung auf der Straße sind beide Faktoren relevant. „Bei einer ABS-Bremsung bleibt der Reifen beispielsweise zunächst kurz auf der Straße haften, bevor er mit Schlupfgeschwindigkeiten von bis zu 1 Meter pro Sekunde zu rutschen anfängt“, so der Maschinenbauingenieur vom Jülicher Peter Grünberg Institut (PGI-1).

Die „wahre“ Kontaktfläche zwischen Reifen und Asphalt unterscheidet sich stark von der geometrischen abgedeckten Fläche – typischerweise liegt sie bei nur etwa 1 Prozent. Der raue Asphalt weist über verschiedene Größenordnungen hinweg kleine Erhöhungen und Spitzen auf, auf denen der Reifen aufliegt. Erst auf der kleinsten, mikroskopischen Ebene kommt es zum direkten, physischen Kontakt. „Wir gehen davon aus, dass sich an den Berührungsstellen eine Art Schmierfilm ausbildet. Diese dünne Zwischenschicht kann etwa abgeriebenes Material oder Flüssigkeitsreste enthalten und bestimmt durch ihre Verformung oder Risswachstum maßgeblich die Gummireibung bei niedrigen Geschwindigkeiten“, erläutert Lorenz.

Abb.: Kontaktfläche in mehrfacher Vergrößerung. Auf mikroskopischer Ebene bestimmt eine Art Schmierfilm aus abgeriebenem Material und Flüssigkeitsresten die Gummireibung. (Bild: FZ Jülich)

Ab Geschwindigkeiten von einem Meter pro Sekunde ist dagegen eine bestimmte Materialeigenschaft des Gummis, die Viskoelastizität, ausschlaggebend. „Wenn ein Reifen über die raue Straßendecke gleitet, ist er an den kleinen Unebenheiten und Erhöhungen des Asphalts Stößen ausgesetzt. Diese führen dazu, dass der Reifen nachgibt und sich eindellt, wodurch sich die Moleküle gegeneinander bewegen und den Stoß abdämpfen. Dadurch nimmt der Reifen kurzzeitig Energie auf, was die Reibung und damit auch die Bodenhaftung erhöht“, erklärt der Leiter der Jülicher Arbeitsgruppe Bo Persson.

Die experimentellen Ergebnisse bestätigen eine von Persson entwickelte, bereits mehrfach in der Praxis bewährte Theorie zur Gummireibung. Sein Modell erfasst Unebenheiten einer Oberfläche bis in den Nanometerbereich, also von wenigen millionstel Millimetern. Mithilfe von Daten zur Rauigkeit der Straße und Viskoelastizität des Gummis lässt sich so vorhersagen, wie gut eine Gummimischung auf Asphalt haftet. Für den endgültigen Beleg dieses Ansatzes sind aber noch weitere Messreihen erforderlich. Die Perssonsche Theorie ist auch ganz allgemein für Gummidichtungen und damit für viele andere Anwendungsfelder relevant: beispielsweise für die Entwicklung von Scheibenwischern oder fein dosierbare Insulinspritzen, die über spezielle, reibungsarme Gummidichtungen verfügen.

FZ Jülich / PH

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