23.12.2020

Wo die Hälfte aller Materie steckt

Aufnahmen von eRosita zeigen riesige kosmische Filamente.

Mehr als die Hälfte der Materie in unserem Universum entzog sich bislang unserem Blick. Astro­physiker hatten allerdings eine Vermutung, wo sie sich aufhalten könnte: In Filamenten, unvorstellbar großen fädigen Strukturen aus heißem Gas, die Galaxien und Galaxienhaufen umgeben und miteinander verbinden. Ein Team unter Federführung der Universität Bonn hat nun erstmals einen Gasfaden von fünfzig Millionen Licht­jahren Länge beobachtet. Sein Aufbau ähnelt frappierend den Vorhersagen von Computer­simulationen. Die Beobachtung bestätigt daher auch unsere Vorstellungen von der Entstehung und Entwicklung unseres Universums.

 

Abb.: Standbild aus einer Simulations­berechnung, die die Verteilung heißen...
Abb.: Standbild aus einer Simulations­berechnung, die die Verteilung heißen Gases zeigt (li.), im Vergleich mit der eRosita-Röntgen­aufnahme (re.) des Abell 3391/95-Systems (Bild: Reiprich et al. / EDP Sciences)

Nach dem Urknall dehnte sich die Materie fast symmetrisch aus. Aber an manchen Stellen war die Wolke etwas dichter als an anderen. Und allein deshalb gibt es heute Planeten, Sterne und Galaxien. Denn von den dichteren Gebieten gingen etwas höhere Gravitationskräfte aus, die das Gas aus ihrer Umgebung zu sich heranzogen. Der Raum zwischen ihnen wurde dagegen leerer und leerer. So entstand innerhalb von gut 13 Milliarden Jahren eine Art Schwamm­struktur: große Voids ohne Materie, dazwischen Bereiche, in denen sich auf engem Raum Tausende von Galaxien tummeln – Galaxienhaufen oder -cluster.

Wenn es sich tatsächlich so abgespielt hat, müssten die Galaxien und Cluster noch immer durch Reste dieses Gases verbunden sein, wie durch die hauchdünnen Fäden eines Spinnennetzes. „Berechnungen zufolge befindet sich in diesen Filamenten mehr als die Hälfte der gesamten baryonischen Materie unseres Universums“, erklärt Thomas Reiprich vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn. Dennoch entzog sie sich bislang unseren Blicken: Aufgrund der enormen Ausdehnung der Filamente ist das Materiegas in ihnen extrem verdünnt: Es enthält pro Kubik­meter gerade einmal zehn Teilchen – das ist sehr viel weniger, als in dem besten Vakuum vorhanden sind, das wir auf der Erde herstellen können.

Mit einem neuen Messinstrument, dem eRosita-Weltraum­teleskop, konnten Reiprich und seine Kollegen das Gas nun aber erstmals umfassend sichtbar machen. „ eRosita hat sehr empfindliche Detektoren für die Art von Röntgenstrahlung, die von dem Gas in Filamenten ausgeht“, erklärt Reiprich. „Außerdem hat es ein großes Gesichtsfeld – es bildet wie ein Weitwinkel-Objektiv einen relativ weiten Teil des Himmels in einer einzigen Messung ab, und das in sehr hoher Auflösung.“ Dadurch lassen sich in vergleichs­weise geringer Zeit detaillierte Aufnahmen von großen Objekten wie etwa Filamenten anfertigen.

Die Wissenschaftler nahmen in ihrer Studie ein Himmelsobjekt namens Abell 3391/95 unter die Lupe. Dabei handelt es sich um ein System von drei Galaxien­haufen, das rund 700 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist. Auf den eRosita-Aufnahmen sind nicht nur die Haufen und zahlreiche Einzel­galaxien zu erkennen, sondern auch die Gasfäden, die diese Strukturen miteinander verbinden. Das gesamte Filament ist fünfzig Millionen Lichtjahre lang. Möglicherweise ist es aber noch riesiger: Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Aufnahmen nur einen Ausschnitt zeigen.

„Wir haben unsere Beobachtungen mit den Ergebnissen einer Simulation verglichen, die die Entwicklung des Universums nachstellt“, erklärt Reiprich. „Die eRosita-Bilder ähneln den computergenerierten Grafiken frappierend. Das spricht dafür, dass das weithin akzeptierte Standard­modell zur Entwicklung des Universums korrekt ist.“ Vor allem zeigen die Daten aber, dass sich die fehlende Materie wohl tatsächlich in den Filamenten verbirgt.

RUB / DE

 

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