Zerfall von Lithium-6 extrem genau vermessen
Elektronenbeschleuniger ermöglicht Bestätigung theoretischer Vorhersagen.
In der Natur vorkommende Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen, die durch die starke Wechselwirkung zusammengehalten werden. Eine moderne Theorie dieser Kräfte, die an der TU Darmstadt innerhalb des Sonderforschungsbereichs 1245 – Atomkerne: Von fundamentalen Wechselwirkungen zu Struktur und Sternen – entwickelt wird, hat das Ziel, alle Eigenschaften von Atomkernen zu beschreiben. Anfang des letzten Jahrzehnts war die Kernphysik-Theorie so weit fortgeschritten, dass die Berechnungen für einen einzigartigen angeregten Zustand des Isotops Lithium-6 (6Li) präziser zu sein schienen als der experimentelle Wert. Insbesondere beinhaltete die Theorie einen Effekt, der die Lebensdauer dieses Zustandes um ein paar wenige Prozentpunkte beeinflussen sollte. Um nachzuprüfen, ob das tatsächlich der Fall ist, wurde ein neues Hochpräzisionsexperiment durchgeführt. Gleichzeitig haben die Theoretiker der TU die Berechnung dank neuer Fortschritte durchführen können. Ein umfassendes Modell der Kernkräfte sollte sich nahtlos in das heute vorherrschende System aus Elementarkräften der Physik einfügen. Diese „Chirale Effektive Feldtheorie“ hat die Eigenschaft, dass sie sich schrittweise verbessern lässt.
Das Isotop 6Li, das aus jeweils drei Protonen und Neutronen besteht, genießt einen besonderen Status. Es ist das einfachste System aus Kernteilchen, dessen angeregter Zustand durch Aussenden eines Photons zerfallen kann, also sehr gut für einen Test von fundamentalen Theorien geeignet ist. Es war schon abzusehen, dass die nächste Verbesserungsstufe der Theorie so präzise sein würde, dass die bisherigen Messdaten nicht mehr ausreichen, um die Qualität der Vorhersagen zu beurteilen. Daher wurde am supraleitenden Darmstädter Elektronen-Linearbeschleuniger S-DALINAC des Instituts für Kernphysik ein Hochpräzisionsexperiment zur Messung der Lebensdauer dieses Zustandes von 6Li durchgeführt. Durch den Elektronenstrahl des Linearbeschleunigers können Photonen mit der millionenfachen Energie von sichtbarem Licht erzeugt werden, die zur Anregung von 6Li notwendig sind.
Mitarbeiter der Arbeitsgruppe um Norbert Pietralla verbesserten eine etablierte Messmethode entscheidend, sodass sie die Lebensdauer mit einer Genauigkeit von zwei Attosekunden bestimmen konnten. Der Erfolg der Messung war davon abhängig, wie das verwendete Lithiumcarbonat-Material die Absorption von Photonen beeinflusst. Hier konnte die Arbeitsgruppe um Karsten Albe vom Fachgebiet Materialmodellierung entscheidende Beiträge leisten. Begleitend zum experimentellen Fortschritt, erzielte ein Doktoranden-Team zusammen mit nationalen und internationalen Kollegen einen Durchbruch und erreichten die erwartete hohe Präzision der theoretischen Vorhersagen. „Ein Vergleich des experimentellen Ergebnisses mit der theoretischen Vorhersage zeigte eine hervorragende Übereinstimmung“, berichtet Udo Friman-Gayer, der während seiner Promotion an diesem Thema gearbeitet hat.
Im Rahmen des SFB 1245 und des kürzlich gestarteten LOEWE – Projekts „Nukleare Photonik“ sollen künftig die Anwendbarkeit der neuen Messmethode und der verbesserten Theorie erweitert werden, um der Antwort auf fundamentale Fragestellungen wie nach der Entstehung der Elemente im Universum näherzukommen.
TU Darmstadt / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
U. Friman-Gayer et al.: Role of Chiral Two-Body Currents in 6Li Magnetic Properties in Light of a New Precision Measurement with the Relative Self-Absorption Technique, Phys. Rev. Lett. 126, 102501 (2021); DOI: 10.1103/PhysRevLett.126.102501 - SFB 1245 – Atomkerne: Von fundamentalen Wechselwirkungen zu Struktur und Sternen, Institut für Kernphysik, Technische Universität Darmstadt