07.02.2008

A History of Thermodynamics

Müller

In diesem ansprechend gestaltenen Buch wagt der Professor für Thermodynamik an der TU Berlin, Ingo Müller, einen Parforce-Ritt durch die Wissenschaftsgeschichte von den frühesten Wurzeln des Temperaturbegriffes in der antiken Medizin bis zum neuen Ansatz zur Dauerbrennerfrage „What is life?“ Erwin Schrödingers. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Eher schwach sind die Ausführungen zur Geschichte des Prinzips der Energieerhaltung (Kap. 2), da der Autor dabei nur auf Rumford, Mayer, Joule und Helmholtz näher eingeht und damit die komplexe Geschichte dieses Konzepts sehr verkürzt, an der auch etliche andere Figuren mitgewirkt haben.1) Kenntnisreicher entwickelt er dann die historischen Grundlagen des Entropiebegriffs sowie chemischer Potentiale und ihrer Anwendungen, der durch Einsteins Analyse Brownscher Mole-kularbewegungen angestoßenden Theorie von Fluktuationen u. a. stochastischen Prozessen sowie dem Kontrast zwischen rationaler und erweiterter Thermodynamik.
Bedauerlich ist, dass der Autor zur Anreicherung seines Textes mit historischen Fakten eher selten auf die vorlie-gende wissenschaftshistorische Literatur verweist, dafür um so häufiger auf den Vielschreiber Isaac Asimov, dessen Bonmots – wenngleich historisch nicht immer ganz akkurat – diesem Text allerdings eine zugegeben amüsante Note verleihen. Aber auch Müller selbst ist ein geistreicher Autor, der es ausgezeichnet versteht, seinen Text aufzulockern. So etwa im 4. Kapitel über Entropie, in dem er nach ausführlicher Auslotung einer höchst originellen Analogie zwi-schen idealen Gasen und Gummi augenzwinkernd schreibt: „rubbers are the ideal gases among the solids“ (S. 113). Die Professionalisierung der Thermodynamik wird unter Anspielung auf die Hauptberufe von Helmholtz, Joule, Rum-ford z. B. wie folgt umschrieben: „With Clausius, the time of doctor-brewer-soldier-spy had come to an end.“ (S. 64).
Der Kontrast zwischen Maxwell und Boltzmann wird durch Juxtaposition zweier Zitate deutlich: Während Boltzmann in höchsten Tönen schwelgt „immer höher wogt das Chaos der Formeln“, notiert Maxwell über Boltzmanns längliche Ableitungen: „I am much inclined to put the whole business in about six lines.“ (S. 95). Überhaupt sind die Charakteri-sierungen von Personen und Intentionen sehr treffend gelungen, trotz gelegentlicher kleiner historischer Ungenauig-keiten. Gelegentlich hätte ich eine gewisse Entschlackung des Textes für sinnvoll gehalten, so scheint mir der Exkurs zu den Lorentz-Transformationen und zu E = mc2 zu sehr aufgebläht, da er viel zu weit in die Elektrodynamik hinein-führt. In etlichen der späteren Kapitel, insbesondere dem zur Thermodynamik irreversibler Prozesse (Kap. 8), geht beim Autor der Experte durch, worunter die nicht nur angestrebte, sondern ansonsten auch erreichte leichte Verständ-lichkeit leidet.
Als eine Geschichte der Thermodynamik − geschrieben von einem Physiker für Physiker − kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Am wissenschaftshistorischen Kontext Interessierte sollten allerdings ergänzend unbedingt die ein-schlägigen Bücher von Stephen George Brush (The kind of motion we call heat) oder Crosbie Smith (A cultural history of energy) lesen.
Prof. Dr. Klaus Hentschel, Historisches Institut, Universität Stuttgart

I. Müller: A History of Thermodynamics. The Doctrine of Energy and Entropy
Springer, Berlin 2007, X + 330 S., geb.
ISBN 9783540462262

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