29.10.2018

Das hässliche Universum – Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt

Sabine Hossenfelder: Das hässliche Universum – Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt, Fischer, Berlin 2018, 368 S., geb., 22€, ISBN 9783103972467

Sabine Hossenfelder:

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Sabine Hossenfelder, theoretische Physikerin und profilierte Wissenschaftsautorin, hat ein populäres Buch über die moderne Physik geschrieben. Darin behandelt sie die Standardmodelle der Teilchenphysik und Kosmologie, diskutiert die Interpretation der Quantenmechanik und führt in spekulative Ansätze jenseits des Standardmodells („neue Physik“) ein, wie Super­symmetrie oder String-Theorie.

Das stellt aber nur den Hintergrund für ihr eigentliches Anliegen dar, eine Kritik an der Community, die hypothetische Theorien jenseits des Standardmodells entwickelt. Bekanntlich haben etwa die LHC-Experimente bisher keine Hinweise auf neue Teilchen gefunden, und nur durch Ad-hoc-Modifikationen entgehen diese Theorien für „neue Physik“ ihrer Widerlegung. Warum halten große Teile der Community dennoch daran fest? Hossenfelder sieht das Hauptproblem darin, dass in Ermangelung von Daten subjektive Kriterien wie „Einfachheit“, „Natürlichkeit“ oder „Eleganz“ (zusammengefasst zum Merkmal „Schönheit“) die Rolle der Richtschnur in der Theorieentwicklung übernommen haben.

Eine Stärke des Texts liegt in der großen Zahl von Gesprächen, die Hossenfelder während der Recherchen geführt hat. Sie schildert diese Begegnungen mit einigen der einflussreichsten Forschern, wie Nima Arkani-Hamed, Steven Weinberg oder Joe Polchinski, äußerst unter­haltsam und kommentiert die langen Zitate mit Humor und Hintersinn. Wer, wenn nicht diese Persönlichkeiten, sollten erklären können, warum die genannten Kriterien gerechtfertigt sind? Doch in einer Art unfreiwilliger Selbstenthüllung zeigt sich, dass einige dieser Akteure trotz vergeblicher Suche nach neuer Physik, kaum Anlass zu einer kritischen Reflexion der Forschungsmethoden sehen. Hossenfelder diagnostiziert einen Verlust an wissenschaftlichen Qualitätsstandards durch die weite Verbreitung des Bestätigungsfehlers („confirmation bias“) und die Gefahr einer „postempirischen“ Physik, wenn unüberprüfbare Konzepte wie das „Multiversum“ ernst genommen werden.

Sie nennt strukturelle Gründe, warum die aktuelle Situation ernster ist, wie etwa den hohen Veröffentlichungsdruck oder die Vergabepraxis von Drittmitteln, die auf planbare und kurzfristige Ergebnisse zielen. Dies verstärkt die Tendenz zu eintöniger Mainstream-Forschung, die das Forschungsparadigma nicht grundsätzlich hinterfragt. Wie plausibel ist aber die These, dass diese aktuellen Entwicklungen das Problem entscheidend verschärfen?

Bereits 1974 hat sich der Physikhistoriker Stephen G. Brush über die verbreitete Vorstellung des Physikers als „neutralem Faktenfinder“ lustig gemacht. Dabei handele es sich um nichts anderes als eine (unbewusste) Indoktrination, um Studierende dazu zu motivieren, an dieser „Fortschrittsgeschichte“ teilzunehmen. Man ist nun geneigt, Hossenfelder zu unterstellen, dass auch sie in eben diesem Sinne indoktriniert wurde. Ihr Buch dokumentiert dann eine persönliche „Ent-Täuschung“. Ihre eigene Schilderung verdeutlicht, dass sie den „menschlichen Faktor“ in der Vergangenheit bloß für die Umwege verantwortlich macht, die auf dem Weg zu „sicherer“ und „objektiver“ Erkenntnis in Kauf zu nehmen sind. In welchem Umfang die Physik notwendig die Spuren der menschlichen Erkenntnisbedingungen in sich tragen muss, nimmt sie nicht in den Blick.

In welchem Ausmaß man zudem Hossenfelders Sorge teilt, dass die gesamte Physik von dieser vorgeblichen Erosion betroffen ist, hängt auch davon ab, ob man in reduktionistischer Weise der Teilchenphysik die Aufklärung der „letzten“ Fragen zuschreibt, aus deren Beantwortung im Prinzip alle anderen Natur­gesetze folgen.

Ihre (nicht immer neue) Kritik an Auswüchsen des Wissenschaftsbetriebs bleibt jedoch über weite Strecken berechtigt. Mit kritischem Reflexionsvermögen, das die Autorin von der aktuellen Forschung einfordert, wird man dieses gut geschriebene Buch mit großem Gewinn lesen.

Dr. Oliver Passon,
Fakultät für Mathematik und Natur­wissenschaften, Bergische Universität Wuppertal

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