Die Entdeckung der Milchstraße
Harald Lesch, Cecilia Scorza-Lesch, Arndt Latußeck: Die Entdeckung der Milchstraße, C. Bertelsmann, München 2023, geb., 304 S., 30 Euro, ISBN 9783570105054
Harald Lesch, Cecilia Scorza-Lesch, Arndt Latußeck
Um es vorweg zu sagen: Das ist kein gutes Buch zu einem faszinierenden Thema. Schade, denn wenn es um unsere Galaxis geht, leben wir gerade in spannenden Zeiten. Beeindruckte schon die Hipparcos-Mission mit der Vermessung von 100 000 Sternen der Milchstraße, nimmt Gaia über eine Milliarde Sterne ins Visier und liefert Daten, die ein völlig neues Bild unserer dynamischen Heimatgalaxie zeichnen.
Im Buch von Harald Lesch, Cecilia Scorza-Lesch und Arndt Latußeck, alle drei promoviert in Astrophysik, taucht Gaia erst auf Seite 196 auf. Das irritiert und auch, dass Hipparcos überhaupt nicht erwähnt wird. Die inneren Umschlagseiten des Buches zeigen dann auch keines der fantastischen aktuellen Milchstraßen-Panoramen, die aus den Gaia-Daten gewonnen wurden, sondern das „GigaGalaxy Zoom“-Panorama von 2009 – allerdings ohne dies zu benennen oder näher zu erläutern.
Das mag kleinlich klingen, ist aber leider symptomatisch für die oft ungeschickte Bebilderung eines Buches zu einem Thema, das absolut keinen Mangel an großartigem historischen wie modernen Bildmaterial hat. Ich kann hier nur wenige Beispiele nennen, hätte aber bei vielen der Abbildungen aus unterschiedlichen Gründen etwas zu bemängeln, etwa bei der Collage von Fotos der 110 klassischen Messier-Objekte (S. 25). Auf geschätzt einer Fünftel Seite lässt sich im Bild nicht mehr viel erkennen, der Bildnachweis nimmt wegen der unnötig großen Schrift dagegen knapp eine Seite ein!
Auf S. 23 findet sich eine „Anschauliche Darstellung der Größenklassen in Sternkatalogen“. Diese wird als „public domain“ nachgewiesen, stammt aber von einer privaten Astronomie-Webseite. Dort erhält man eine instruktive Erklärungen zur Helligkeit der Sterne. Das fällt im Buch sehr dürftig aus: „Sterne der ersten Helligkeitsklasse scheinen heller als Sterne zweiter oder dritter Klasse“. Auch in einem populärwissenschaftlichen Buch lässt sich das besser erklären.
Besonders ärgerlich ist die kleine und simple Grafik des „Kapteyn-Universums“ von 1922 (S. 58). Diese wird ebenfalls als „public domain“ nachgewiesen, stammt aber von einer amerikanischen „Homework“-Webseite. Statt die Grafik wenigstens korrekt zu übernehmen, wurde aus der Tilde (~) für „circa“ ein Minus (–), und aus „kiloparsec“ wurde „kilo per sec“. Dass weder die Grafik noch der Text den Clou der Kapteynschen Stellarstatistik wiedergeben und die Zahlenangaben in Grafik (15 kpc) und Text (17 kpc) nicht übereinstimmen, kommt hinzu. Hier wären die von Kapteyn publizierten Diagramme viel instruktiver gewesen. Damit ließe sich auch verdeutlichen, wie sich seine Vorstellung der Milchstraße mit der Zeit gewandelt hat. Dass in diesem Zusammenhang weder Hugo von Seeliger noch Karl Schwarzschild, beide Pioniere der Stellarstatistik, erwähnt werden, ist vermutlich dem Versuch geschuldet, die Geschichte der Erforschung der Milchstraße bis ca. 1960 in möglichst individuellen biografischen Kapiteln zu erzählen.
Ein Beispiel, wo der betont anekdotische Ansatz besonders schlecht funktioniert, ist die Entdeckung der Spiralstruktur der Milchstraße. Da werden Walter Baade und William Morgan unnötig getrennt, obwohl deren jeweilige Forschungen zur Andromeda-Galaxie bzw. unserer Milchstraße aufs Schönste auf der Abbildung auf S. 157 zusammengeführt werden. Die ist jedoch weder groß genug abgebildet noch adäquat untertitelt. Zugunsten einer ausgewalzten (und fehlerhaften) Publikationsgeschichte und zweckfreien Pointen fallen die relevanten astrophysikalischen Aspekte unter den Tisch.
Das zeigt sich etwa daran, dass man im Buch zwar erfährt, dass Ejnar Hertzsprung Schwiegersohn von Kapteyn wurde, aber nichts über das Hertzsprung-Russell-Diagramm liest. Das darf eigentlich nicht fehlen, zumal es auch in Zeiten von Gaia ein wesentliches Forschungsinstrument bleibt. Wenn endlich die Rede von Gaia ist – von der ESA zu Recht als „größte Entdeckungsmaschine der Astronomie“ bezeichnet –, liest sich der Text eher wie ein Rechenschaftsbericht des SFB 881 „Das Milchstraßensystem“. Der ist thematisch relevant, lief aber 2022 aus.
Das Pathos in Vor- wie Nachwort (z. B. „Band der Sternensaat“) ist Geschmackssache, aber der folgende Abschnitt im Vorwort in Bezug zum heute bekannten Milchstraßen-Durchmesser von 100.000 Lichtjahren der Milchstraße ist doch etwas kurios: „Wie will man solche Abgründe an Zeit und Raum fassen? Mit welchem Instrumentarium können Lebewesen auf einer vergleichsweise kleinen planetarischen Felsenkugel sich einem Gebilde wie der Milchstraße nähern, ohne gleich in Ehrfurcht vor der riesigen Größe zu erstarren?“
Wie sollte dies etwa die Forscherinnen und Forscher des 18. Jahrhunderts bremsen, die ja noch gar nichts von der wahren Ausdehnung der Milchstraße wussten? Heute ist die Milchstraße kosmisch gesehen winzig, da müsste die Ehrfurcht bei ganz anderen Größenordnung ansetzen. In diesem Zusammenhang macht stutzig, dass auf Seite 199 des Buches der Durchmesser der Milchstraße unvermutet 150 000 Lichtjahre beträgt.
Vieles verstärkt den unfertigen Eindruck des hochwertig verarbeiteten Buchs: die Textübernahme aus einer DLR-Broschüre zur Infrarotastronomie, zu der ich nirgends etwas finden konnte, das lieblose Layout, der nur eine Seite umfassende Anmerkungsapparat, das heterogene und ergänzungsbedürftige Literaturverzeichnis und das Fehlen einer Danksagung. Auch bleibt unklar, wer was geschrieben hat. Angesichts des großartigen Themas bedauere ich es sehr, das Buch nicht empfehlen zu können.
Alexander Pawlak
Anmerkung (1. Januar 2024): Die Rezension wurde für diese Onlineversion leicht überarbeitet und ergänzt.