30.05.2006

Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1948-1949)

Hentschel


Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit


Noch nie zuvor wurde in solcher Dichte dargestellt, wie die Physiker in Deutschland ihre Verstrickung in das nationalsozialistische System geleugnet, verschwiegen, beschönigt und verdrängt haben. Nicht Betroffenheit angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen des NS-Regimes, Scham oder das Eingeständnis eigener Schuld sprechen aus den zeitgenössischen Quellen der frühen Nachkriegszeit, sondern Selbstmitleid und Verbitterung über das aufgezwungene Besatzungsregime. Bis auf wenige Ausnahmen solidarisierte man sich lieber mit belasteten Kollegen als mit Emigranten, denen mangelndes Verständnis für die deutschen Verhältnisse unterstellt wurde.


Klaus Hentschel bedient sich für den Nachweis dieser Einstellung einer Vielzahl von Quellen. Zum Teil handelt es sich dabei um Physiker-Nachlässe, die bereits für Biografien und Briefeditionen ausgewertet wurden; andere Quellen jedoch wurden bisher kaum beachtet und werden hier erstmals in größerem Umfang herangezogen, wie zum Beispiel der Nachlass des langjährigen Herausgebers der Physikalischen Blätter, Ernst Brüche. Die meist in Briefen an Kollegen geäußerten Auffassungen vermitteln ein authentisches Bild der zeitgenössischen Befindlichkeit deutscher Physiker. Obwohl es sich im Einzelfall immer um individuelle Meinungen handelt, ist die geballte Masse dieser Äußerungen wuchtig genug, um sie als Ausdruck einer kollektiven Haltung zu werten. Hentschel gruppiert die Zitate unter Überschriften wie "Russenangst", "Selbstrechtfertigungen und die Schuldfrage" oder "Insensibilität in der Kommunikation mit Emigranten". Auf diese Weise, so der theoretische Anspruch, soll das "Mentalitätsklima" ausgelotet werden, das den deutschen Physikern in der frühen Nachkriegszeit eigen war.


Unabhängig davon, ob dieser Anspruch im Sinn der Mentalitätengeschichte wirklich eingelöst wird, bringt dieser Ansatz jedoch einige Probleme mit sich. Die ausgewählten Zitate, mit denen die Mentalität der Physiker illustriert wird, entstammen ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, deren Erläuterung den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Mit einem sehr weitschweifigen Anmerkungsapparat wurde versucht, dem Abhilfe zu schaffen; dies geht jedoch auf Kosten der Lesbarkeit, denn man muss die Fußnoten mitlesen, wenn man den jeweiligen Kontext nicht ganz außer Acht lassen will. Darüber hinaus ist nicht klar, an wen sich der Autor wendet. Akademische Formulierungen ("Ideologeme", "actor's category" etc.) erwecken den Eindruck einer vorwiegend an Kollegen aus den Geisteswissenschaften adressierten Studie; Ausdrucksweisen wie "Eindreschen auf den Prügelknaben ¿Deutsche Physik' " lassen andererseits auf populär-journalistische Absichten schließen. Gelegentlich macht sich die Empörung des Autors über das Verhalten der Physiker auch Luft mit polemischen Formulierungen ("die Ubiquität der berühmt-berüchtigten ¿Wendehälse' "). Das Buchmanuskript scheint vor der Drucklegung auch nicht mehr durch ein Lektorat betreut worden zu sein, denn es enthält zahlreiche sprachliche Flüchtigkeitsfehler und inkonsistente Zitierweisen.


Diese Mängel sollten aber nicht davon abhalten, die mit dieser Studie zwingend dargelegte Botschaft zur Kenntnis zu nehmen. "Ich liebe ja Deutschland," schrieb Lise Meitner an James Franck im Jahr 1946, "aber ich komme mir vor wie eine Mutter, deren Lieblingskind missraten ist". Nach der Lektüre von Hentschels Buch kann man nachvollziehen, warum die ins Exil getriebenen Physik-Emigranten so dachten.


Dr. Michael Eckert, Lehrstuhl für Geschichte der Naturwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München

Weitere Infos:

K. Hentschel: Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1948¿1949)
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2005, 192 S., brosch., 

ISBN 3-935025-80-7

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