Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit
Deichmann
Von U. Deichmann. Wiley-VCH, Weinheim 2001. XII + 597 S., Broschiert, ISBN 3-527-30264-6
Nachdem ihre Monografie "Biologen unter Hitler" aus dem Jahre 1992 zu einem Standardwerk in der wissenschaftshistorischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geworden ist, kann man dem vorliegenden Buch von Ute Deichmann prophezeien, ebenfalls ein solches zu werden.
Mit viel Liebe zum Detail und biografischen Einzelschick salen zeichnet die Kölner Wissenschaftshistorikerin die Entwicklung der Biochemie, aber auch anderer chemischer Teildisziplinen, während des Dritten Reiches nach. Von besonderem Wert ist, dass die Autorin nicht allein die Vertreibung vieler bedeutender und zumeist jüdischer Biochemiker aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze dokumentiert, sondern auch der Frage nach dem Verhalten ihrer nichtjüdischen Kollegen und derem späteren Vergessen und Verdrängen nachgeht. Dabei kommt sie zu dem Befund, dass die Entlassungen weitgehend kommentarlos hingenommen wurden und man mit großer Selbstverständlichkeit in die frei gewordenen Stellen nachgerückt ist. Nur ein einziger Fall ist belegt, in dem durch den Berliner Pharmakologen Otto Krayer die Übernahme eines durch die Vertreibung freigewordenen Lehrstuhls abgelehnt wurde (S. 80ff). Auch sonst gibt es beschämend wenige Zeugnisse für aktive Solidarität mit vertriebenen bzw. verfolgten Kollegen oder auch nur für nonkonformes Verhalten im Dritten Reich.
Die Autorin belässt es in ihrem Buch aber nicht bei einer "moralischen Bilanz", sondern sie versucht vor allem darzustellen, welche Verluste der deutschen Wissenschaft durch Vertreibung und Emigration entstanden sind. Dabei wird deutlich, dass die Biochemie diejenige naturwissenschaftliche Disziplin ist, die von der NS-Vertreibungspolitik am stärksten betroffen war: etwa 26% der im akademischen Bereich tätigen Biochemiker wurden nach 1933 aus ihren Stellungen vertrieben und emigrierten zumeist. Wie etwa am Beispiel von Otto Stern und seiner Molekularstrahlmethode gezeigt wird, wanderten ganze Foschungsrichtungen aus oder erfuhren große Einbußen. Diese Verluste konnten vielfach gar nicht oder erst Jahrzehnte nach der Naziherrschaft wieder ausgeglichen werden.
Dennoch ist die Geschichte der Biochemie im Dritten Reich nicht nur eine von Verlus ten und Defiziten. Im Rahmen des nationalsozialistischen Autarkieprogrammes und der Aufrüstung erfuhr die chemische Forschung ganz allgemein und damit auch einige Gebiete der Biochemie eine ungemein großzügige Förderung. Die Analyse der zwischen 1933 und 1945 verteilten DFG-Gelder weist auf einen überproportionalen Anstieg der Fördermittel hin. Dabei wurde nicht nur in anwen dungs orientierte bzw. kriegswichtige Projekte investiert, sondern auch für die (bio)chemische Grundlagenforschung lässt sich eine teilweise nachhaltige Förderung nachweisen. Wie dieser Einzelfakt so regt das gesamte Buch zum Nachdenken über das vielschich tige Phänomen "Wissenschaft im Dritten Reich" an. Man kann zudem hoffen, dass dieses Buch auch ähnlich tiefgründige und umfassende physikhistorische Darstellungen zu diesem Thema anzuregen vermag.
Priv.-Doz. Dr. Dieter Hoffmann, Max-Planck-Institut für Wissenschaftgeschichte, Berlin