Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers
Schirrmacher, A. (Hrsg.)
Philipp Lenard dürfte den meisten Lesern des Physik Journals in zweifacher Hinsicht bekannt sein: zum einen als hochbegabter Experimentalphysiker und Nobelpreisträger der Physik des Jahres 1905, dessen Experimente zur Freisetzung von Elektronen durch Bestrahlung von Kathoden mit ultraviolettem Licht (entgegen Lenards eigener, verfehlter Deutung) eine wichtige Grundlage der Lichtquantenhypothese Albert Einsteins wurden; zum anderen auch als einer der exponiertesten Vertreter der sog. „Deutschen Physik“. Mit dieser brachte der seit 1920 zunehmend antisemitisch argumentierende Lenard sein Unverständnis großer Teile der modernen theoretischen Physik zum Ausdruck, die er (vergeblich) durch eine intuitive, anschauliche Physik zu ersetzen versuchte, womit er sich ins Abseits manövrierte.
Neben diese beiden bekannten Perspektiven rückt in den hier mit ausführlicher Einleitung des Herausgebers kritisch edierten autobiografischen Erinnerungen eine dritte, bislang nur wenigen bekannte Persona: die eines 1862 in Preßburg an der deutsch-ungarischen Sprachgrenze aufgewachsenen Sohnes eines Weinhändlers, der sich seinen Weg zur Naturforschung erst mühsam erkämpfen musste und sein Deutschtum erst spät entdeckte.
Seine „Erinnerungen eines Naturforschers, der Kaiserreich, Judenherrschaft und Hitler erlebt hat“ (so der vollständige Titel des Manuskripts in der Fassung vom September 1943) wird verglichen mit einer früheren Fassung von 1931 und einer Version in handschriftlicher Überarbeitung, ergänzt um einige vom Herausgeber aus dem Familiennachlass, seinen Tagebüchern u. a. Quellen hinzugenommenen kurzen Texte. Die jeweilige Textherkunft wird durch unterschiedliche Fonts gekennzeichnet, was zwar sehr platzsparend ist, der Edition aber ein sehr unruhiges Schriftbild verleiht, wozu verschiedene Schichten von Anmerkungen noch das ihrige beitragen. Es ist aber doch gut, dass die kritischen Anmerkungen des Herausgebers, in denen er vielfach von Lenard irreführend angegebene Sachverhalte richtigstellt oder durch Versionen anderer Zeitzeugen komplementiert, nicht in einen kritischen Apparat am Ende verbannt wurden, denn vieles in Lenards selbstgefälligen, politisch verbohrten und oft polemischen Erin-nerungen schreit geradezu nach sofortiger Kontextualisierung, Gegenüberstellung oder Korrektur, die dem Leser hier unaufdring-lich, und „on the spot“ geboten wird. Für alle an Lenard als Person, an seinem Werk oder seiner Zeit Interessierten ist diese Edition unverzichtbar; auch in jeder Physik-Bibliothek sollte sie vorhanden sein, selbst wenn die Lektüre dieses bis heute irritierenden, ja pathologischen Textes eines Briten-Hassers und fanatischen Parteigängers Hitlers manchem eher Kopfschmerzen als Genuss bereiten wird.
Prof. Dr. Klaus Hentschel, Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, Universität Stuttgart
A. Schirrmacher (Hrsg.): Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers
Springer, Heidelberg 2010, 344 S., ISBN 9783540890478