The Last Writings of Thomas S. Kuhn
Thomas S. Kuhn: The Last Writings of Thomas S. Kuhn, hrsg. von Bojana Mladenovic, Chicago University Press, Chicago 2022, geb., 312 S., 25,99 Euro, ISBN 9780226822747
Thomas S. Kuhn
Auf dieses Buch haben alle diejenigen, die an der Philosophie Thomas Kuhns interessiert sind, lange gewartet, sehr lange sogar. Bekannt war, dass Kuhn, der mit seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ von 1962 weltberühmt geworden war, an seiner Theorie der Wissenschaftsentwicklung ständig weitergearbeitet hatte.1) Insbesondere hat sich bereits in den 1970er-Jahren Kuhns Konzeptualisierung wissenschaftlicher Revolutionen von Analogien aus der Wahrnehmung (wie dem Gestaltwandel) zu einer Sichtweise hinbewegt, die direkt den Begriffswandel thematisiert. Er schrieb seit den 1980er-Jahren an einem Buch, das aber aufgrund einer Unmenge neu verarbeiteten Materials vor allem aus Entwicklungspsychologie und Sprachphilosophie nur langsam vorankam. Schließlich verstarb er im Juni 1996. Von neun geplanten Kapiteln seines Buchs hatte er nur die ersten fünf in einigermaßen passablem Zustand beendet und das sechste begonnen.
Wie von Kuhn gewünscht, übernahmen zwei Kollegen, James Conant und John Haugeland, begleitet von ausführlichen Anweisungen die postume Publikation. Leider geschah dann nichts. Nun hat der Verlag mit der Philosophin Bojana Mladenovic eine andere Herausgeberin gefunden. Mit ihr hat Kuhns unvollendetes „The Plurality of Worlds: An Evolutionary Theory of Scientific Development“ zusammen mit einigen kürzeren Texten aus dem Nachlass 26 Jahre nach seinem Tod das Licht der (Bücher-)Welt erblickt.
Kuhn war promovierter theoretischer Physiker, der auf Wissenschaftsgeschichte umgesattelt hatte. Vor allem in der Physik- und Chemiegeschichte fand er, dass immer wieder eigenartige Entwicklungsbrüche in einer Disziplin (oder Subdisziplin) stattfanden. Er nannte diese Brüche wissenschaftliche Revolutionen. Etliche davon waren schon vor ihm so bezeichnet worden. Sie unterbrachen das ansonsten kumulative, stetige Wachstum des wissenschaftlichen Wissens, weil der jeweilige Gegenstandsbereich der Disziplin neu und anders konzeptualisiert wurde. Wichtig dabei ist, dass diese Revolutionen ebenfalls wissenschaftlichen Fortschritt bringen, nur nicht auf die kumulative Weise, die für die ruhigeren, „normalen“ Phasen charakteristisch ist. Das Verhältnis der vor- zur nachrevolutionären Wissenschaft nannte Kuhn „inkommensurabel“. Wie in der Mathematik bedeutet das keinesfalls, dass man die beiden Wissenschaftsformen nicht miteinander vergleichen kann, sondern nur, dass dieser Vergleich nicht mit einem gemeinsamen, fixen Maß vonstattengehen kann, im Fall der Wissenschaft mit einem festen Satz von Grundbegriffen.
Wie kann man einen solchen Wandel wissenschaftlicher Grundbegriffe charakterisieren? Kuhns Problem war, dass die in der Sprachphilosophie geläufigen Begriffstheorien den von ihm ins Auge gefassten Begriffswandel nicht zuließen. Daher machte er sich auf, eine eigene Begriffstheorie zu entwickeln, zugeschnitten auf die Möglichkeit von Inkommensurabilität. Das ist das Hauptthema seiner Arbeiten in seinem letzten Vierteljahrhundert, und dieses Buch macht uns Kuhns Bemühungen zugänglich, leider eben nur so weit, wie er selbst gekommen ist. Es zeigt Kuhn als einen interdisziplinären Denker, der sich souverän zwischen Wissenschaftsgeschichte, kognitiver Psychologie, Entwicklungspsychologie und Sprachphilosophie bewegt.
Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene,
Universität Hannover