21.12.2006

Understanding Space-Time

Disalle, R.

R. Disalle rekonstruiert die Geschichte physikalischer Raum-Zeit-Theorien in Form einer philosophischen Begriffsanalyse. Dabei wendet er sich zugleich gegen Kants Apriorismus, Kuhns Theorie der Paradigmenwechsel sowie den Konventionalismus. Er kommt dabei zu einer eigenständigen Sicht einer kontinuierlichen historischen Entwicklung, die ein neues Licht auf den Sinn konzeptueller Veränderungen wirft. Das Buch kann sowohl von Philosophen und Wissenschaftshistorikern als auch von Physikern mit Gewinn gelesen werden, auch wenn der Stil zuweilen etwas zäh und redundant wirkt.
Kants Apriorismus scheint insbesondere durch die Existenz nicht-euklidischer Geometrien widerlegt. Nach Disalle liegt der Schwachpunkt Kants vor allem darin, Raum und Zeit als unveränderlichen Hintergrund gedacht zu haben. Doch im Sinne Kants betont er, dass die Raum-Zeit einen unverzichtbaren Bezugsrahmen zur Interpretation empirischer Phänomene bildet. Mit Weyl behauptet er eine historische Kontinuität zwischen der Allgemeinen Relativitätstheorie und ihren Vorläufern.
Für Disalle irrt Kuhn darin, dass Paradigmen aus dem Nichts geschaffen würden und neue Theorien inkommensurabel mit alten seien. So finde Einstein die Basis seiner Theorien vielmehr in der geübten Praxis raum-zeitlicher Messprozesse, und der eigentliche Fortschritt bestehe (bloß) in einer Erweiterung der Perspektive: Einstein habe die Newtonsche Bestimmung des zeitlichen Verhältnisses räumlich entfernter Ereignisse als eingeschränkt auf ein bestimmtes Inertialsystem durchschaut und die übliche Konzeption eines Inertialsystems als eingeschränkt auf etwas Lokales. Einstein wie auch Newton glaubten sehr wohl daran, dass die physikalischen Phänomene auf eine objektive Natur der Raum-Zeit verweisen.
Damit richtet sich Disalle zuletzt gegen die Logischen Positivisten, deren Konventionalismus gerade besagt, dass es bloß eine Frage konventioneller Festlegungen sei, welche von zahlreichen möglichen Geometrien nun objektiv gelten solle. Doch diese Sicht, so Disalle, beruhe auf einem Missverständnis nicht nur der historischen Entwicklung, sondern auch auf einem falschen Verständnis der physikalischen Anwendung von Mathematik. Keineswegs sei es so, dass auf der einen Seite ein abstraktes System wäre und auf der anderen Seite die empirischen Phänomene, und sich dann die Frage stellte, mittels welcher Definitionen diese beiden Bereiche zu verbinden seien. Vielmehr hätten wir ausschließlich die empirischen Phänomene zum Gegenstand, und das Verhältnis dieses Physikalischen zur Raum-Zeit sei ein denkbar enges und keines von zwei getrennt gedachten Bereichen. Die Raum-Zeit-Struktur äußere sich im physikalischen Prozess; dieser bringt sie zum Ausdruck.
Diese meines Erachtens überzeugende Analyse macht Disalle anhand von einschlägigen Fallstudien plausibel, so z. B. bei frei fallenden, lokalen Bezugssystemen, die empirisch alle Kriterien eines Inertialsystems erfüllen, ohne sich in ein gemeinsames globales Inertialsystem integrieren zu lassen. Indem Einstein die Relativbeschleunigung frei fallender Körper als geodätische Abweichung deutet, verstehe er die scheinbar widersprüchlichen Standpunkte verschiedener Inertialsysteme als lokale Perspektiven einer im Großen gekrümmten Raum-Zeit; das empirische Phänomen wird so als Ausdruck der ihm inhärenten Raum-Zeit-Struktur verstanden.

Priv.-Doz. Dr. Cord Friebe, Institut für Philosophie, Universität Bonn

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