18.09.2019

Virtuelle und mögliche Welten

Hans J. Pirner: Virtuelle und mögliche Welten in Physik und Philosophie, Springer, Berlin, Heidelberg 2018, brosch., XIV + 342 S., 24,99 Euro, ISBN 9783662566145

Hans J. Pirner

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„Daß mehr als eine Welt sei, war eine Formel, die seit Fontenelle die Aufklärung erregte“, so der Philosoph Hans Blumenberg. Der französische Schriftsteller Bernard le Bovier de Fontenelle liefert auch das Eingangszitat für den vorliegenden Band. In seinen „Entretiens sur la pluralité des mondes“ (1686) spekuliert er über die Möglichkeit der Existenz von vernunftbegabten Wesen auf anderen Welten.
Was aber sind andere Welten? Bei Fontenelle sind das ferne Sonnen und Planeten. Letztere beobachtet man, zumindest indirekt, seit über zwanzig Jahren in großer Zahl, doch hat uns von diesen Exoplaneten noch kein intelligentes Wesen kontaktiert. Spätes­tens seit Kant hielten die Welteninseln Einzug in die Astronomie: die Galaxien. Von diesen weiß man erst seit etwa hundert Jahren sicher, dass sie sich tatsächlich außer­halb der Milchstraße befinden. In der modernen Physik schließlich wird über die Existenz von Multiversen nachgedacht, angeregt durch die Ideen des inflationären Universums oder der Stringtheorie.
Hans Pirner, Professor für Physik an der Universität Heidelberg, führt in seinem Buch sachkundig in diese physikalischen Themen ein, betritt aber auch den Bereich der Philosophie, wo mögliche Welten eine große Rolle spielen. Leibniz kam bekanntlich zu dem Schluss, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, was den Spott von Denkern wie Voltaire auf sich zog. Auch in der zeitgenössischen Philosophie tummeln sich allerhand mögliche Welten, so etwa bei dem hier ausführlicher erörterten Philosophen David Lewis und seiner Schrift „On the Plurality of Worlds“. Für Lewis sind seine vielen Welten nicht nur möglich, sondern auch real, ein „Paradies der Philosophen, aus dem niemand sie vertreiben solle“. Lewis’ andere Welten sind freilich empirisch nicht erreichbar. Das erinnert an die mehr als 10500 Welten der Stringtheorie, von denen wir auch nichts wahrnehmen. Hier bemüht man seit geraumer Zeit das anthropische Prinzip, um aus der Unzahl der möglichen (und angeblich real existierenden) Welten unser beobachtetes Universum auszuwählen. Für den Autor ist wichtig, dass mögliche Welten vergleichbar sind, logisch konsistent und vollständig; dabei können in jenen Welten durchaus unterschiedliche Naturgesetze gelten.
Neben den möglichen Welten fasst der Autor auch virtuelle Welten ins Auge, die er sorgfältig von jenen trennt. In der Physik stehen hier am Anfang die virtuellen Verrückungen in der Mechanik von d’Alembert, wie Fontenelle ein Vertreter der französischen Aufklärung. Die Quantenfeldtheorie kommt in ihrer Sprache nicht ohne das Bild der virtuellen Teilchen aus. Was für den Autor besonders zählt, ist die Virtualität der Computersimulationen, die Wissenschaft und Alltagswelt durchdringen. So warnt er vor den Gefahren einer Vermischung von Wirklichkeit und Scheinwelt, wie sie in der heutigen digitalen Welt lauern.
Der vorliegende Band spannt einen weiten Bogen zwischen Physik und Philosophie, der auch Betrachtungen zu Kunst und Literatur (insbesondere Science-Fiction) einschließt. Er eröffnet Perspektiven auf ein Denken, das bei weitem nicht abgeschlossen ist.


Prof. Dr. Claus Kiefer,
Institut für Theoretische Physik,
Universität zu Köln

 

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