Worlds of Flow - A History of Hydrodynamics from the Bernoullis to Prandtl
Darrigol
Worlds of Flow
Es gibt Bücher, "die liest man", andere "in denen liest man". Das vorliegende Buch gehört in die zweite Kategorie. Man liest darin aber mit reichem Gewinn! Welch ein Panorama aus Irrungen und Wirrungen wie auch gewaltigen Denkleistungen breitet der Autor aus. Der aufregende wie mühsame Weg der Hydrodynamik von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Zeitenwende um 1900 wird nachgezeichnet. Stilmittel sind viele Originalzitate, Begriffsentwicklungen, Informationen über die beteiligten Wissenschaftler und auch Detailableitungen damaliger Erkenntnisse.
Vielleicht verstehen wir erst heute, in welch schwieriger Lage gerade die Strömungsphysik damals war. Hydrodynamik ist ja eine wesentlich nichtlineare Physik, die aber zugleich immer die linear wirkende Viskosität berücksichtigen muss. Eine riesige Herausforderung, wie wir heute wissen, da uns die besondere Komplexität der Nichtlinearen Dynamik vertraut ist.
Ein Schlaglicht: Die wunderbare Mathematik der nichtlinearen aber idealen Potentialströmungen entwickelte sich zwar unter der hydrodynamischen Herausforderung prächtig, lieferte aber physikalisch leider nur enttäuschende Ergebnisse fern der Realität. So erfuhr ein Körper in der Strömung keinen Widerstand und erst recht keinen Auftrieb. Dieses Euler-Lagrange-Paradoxon ist das Sinnbild eines Versagens. So blieb den zunächst sehr interessierten Bauingenieuren gar nichts anderes übrig, als ihre eigene phänomenorientierte Methode zu entwickeln. Hieran wiederum fanden die Physiker wenig Geschmack.
Als dann Navier 1823 und Stokes 1844 das lineare Zähigkeitsglied hinzufügten, ideale Strömungen also zu realen wurden, fand das nur wenig Anklang "weil ja die Strömungsgleichungen auch ohne Zähigkeit schon schwer genug zu lösen sind". Wow, welch eine entwaffnende Fehlbeurteilung!
Das Buch ist voll von solchen Schlaglichtern. Noch ein Beispiel? Hermann von Helmholtz kannte selbst 1858 noch nicht die erwähnten Ergebnisse von Navier und Stokes und erfand die Strömungsgleichungen neu. Wie es überhaupt viele Mehrfachentwicklungen gab und alles viel verwinkelter lief als bei der Entwicklung der Punktmechanik!
Daniel Bernoulli "erfand" 1734 die hydrodynamischen Grundgleichungen, zehn Jahre vor Euler. Für uns Heutige heißen sie die Eulerschen Gleichungen. Erst sehr viel später, etwa durch Prandtl, wurden daraus echte Vektorgleichungen. Der Begriff "Turbulenz", so lernt man, wurde von William Thomson (Lord Kelvin) etwa seit 1880 verwendet, um von laminaren, also geschichteten Strömungen abzuheben. Vorher, etwa um 1822, stellte Navier lineare und nichtlineare Strömungen gegenüber. Seit den 1830er-Jahren unterschied Saint-Venan, uns heute kaum noch bekannt, reguläre von tumultuösen Strömungen. Den Leser erwarten also reiche Schätze zur Geschichte der Begriffe und ein riesiges Quellenmaterial.
Damit kommt das Buch allerdings auch an seine Grenzen. Wer gezielt sucht, hat es eher schwer. Er irrt manchmal lange umher, bis er ausreichend fündig wird. Es bleibt rätselhaft, warum es nicht leicht und systematisch auffindbare biografische Zusammenstellungen gibt. Vornamen findet man manchmal, manchmal auch nicht, kurios für eine Geschichte der Hydrodynamik. Als wenig geschickt wird man manche Herleitung ansehen. Die extra in den Anhang verbannte heutige Erklärung des Euler-Lagrange-Paradoxons ist unnötig beladen; dabei wusste Euler schon sehr genau, was falsch lief.
Für die Mühsal beim systematischen Arbeiten wird man aber durch die vergnügliche und abwechslungsreiche Fülle von Zitaten und historischen Hinweisen reichlich entschädigt. Man beobachtet das Werden eines spannenden Gebietes, von heutigen Physikern manchmal zu Unrecht vernachlässigt. Reinschauen empfohlen!
Prof. Dr. Siegfried Großmann, Fachbereich Physik, Universität Marburg
Weitere Infos:
O. Darrigol: Worlds of Flow - A History of Hydrodynamics from the Bernoullis to Prandtl
Oxford University Press, 2005, 300 S., geb.,
ISBN 0198568436