21.05.2007

Alltägliche Quantenmechanik

Die grundsätzliche Richtigkeit der Dekohärenztheorie, die den Übergang zwischen Quantenmechanik und Alltagserfahrung beschreibt, lässt sich experimentell beweisen.



In der Welt der Quantenmechanik auf der Ebene von Atomen und noch viel winzigeren Teilchen gibt es Effekte, die der Welt der Alltagserfahrung völlig widersprechen. Den Übergang zwischen den beiden Welten beschreibt die so genannte Dekohärenztheorie. Der Tübinger Physiker Peter Sonnentag hat ihre grundsätzliche Richtigkeit in Experimenten bewiesen.

Die Quantenmechanik ist eine physikalische Theorie, die beschreibt, wie sich Materie auf der Ebene von Atomen und ihrer noch kleineren Bestandteile verhält. Sie wurde hauptsächlich in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Die Begründer der Quantenmechanik waren neben einigen anderen vor allem die Physiker Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Doch daneben blieb die klassische Physik bestehen. Zwar lassen sich Vorgänge in mikroskopisch kleinen Dimensionen hervorragend durch die Quantenmechanik beschreiben und vorherberechnen. Doch der Alltagserfahrung, also dem Verhalten makroskopischer Körper und damit der klassischen Physik, widersprechen die quantenmechanischen Phänomene. Für diese beiden Welten interessiert sich Peter Sonnentag vom Institut für Angewandte Physik der Universität Tübingen. Er hat die Vorhersagen der Dekohärenztheorie, die den Übergang von der Quantenmechanik zur Alltagserfahrung beschreibt, durch Experimente überprüft und konnte sie in ihren Grundzügen bestätigen. Für seine Doktorarbeit, die er in der Arbeitsgruppe von Franz Hasselbach durchgeführt hat, hatte Sonnentag bereits im vergangenen Juli den Dr.-Friedrich-Förster-Preis für Nachwuchs-Physiker erhalten. Die Forschungsergebnisse sind jetzt online in den Physical Review Letters veröffentlicht.

„Die Widersprüche zwischen der Quantenmechanik und der praktischen Erfahrung sind den Wissenschaftlern selbst schon früh aufgefallen. Das zeigt das bekannte Gedankenexperiment von Schrödingers Katze, die bei quantenmechanischer Betrachtung gleichzeitig lebendig und tot sein könnte“, sagt Peter Sonnentag. Erwin Schrödinger stellte sich vor, dass eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Stoff in einem Kasten eingesperrt ist. Ständig wird mit Hilfe eines Geigerzählers gemessen, ob gerade ein Atom zerfällt. Wenn ja, wird über den Ausschlag des Geigerzählers ein Hammer aktiviert, der ein Gefäß mit Blausäure zertrümmert – die Katze ist tot. „Das Absurde daran ist, dass Atome der Quantenmechanik zufolge nicht einfach ‚zerfallen' oder aber ‚nicht zerfallen' sind, sondern sich auch in Überlagerungszuständen aus diesen beiden Möglichkeiten befinden können – man kann dann nur Wahrscheinlichkeiten angeben, mit denen das Atom zerfallen ist. Dadurch ist aber auch das gesamte System in einem Überlagerungszustand, in dem die beiden Möglichkeiten ‚Katze tot' und ‚Katze lebendig' gleichzeitig enthalten sind. Der Alltagserfahrung widerspricht ein solcher Zustand“, sagt Sonnentag. Der Widerspruch in Schrödingers Gedankenexperiment lässt sich durch die Dekohärenz auflösen.

Abb. 1: Der kontinuierliche Übergang von Elektronen vom quantenmechanischem zum klassischen Verhalten: Die Elektroneninterferogramme zeigen die kontinuierlich zunehmende Dekohärenz mit abnehmender Höhe z über der Platte. Das heißt: oben in den Bildern ist noch ein deutliches Interferenzmuster als Streifensystem zu erkennen, weil die Elektronen als Welle beide Wege zugleich genommen haben, die Wege sich also überlagern. Nach unten wird das Streifenmuster immer kontrastärmer, weil sich die Elektronen eher wie Teilchen verhalten haben und sich die Wege nur noch partiell – bzw. bei totaler Dekohärenz gar nicht mehr – überlagern können. Von Bild a bis h nimmt der Abstand Δx, welchen die beiden Wege des Elektrons beim Überqueren der Platte voneinander haben, immer weiter zu. Auch dadurch wird die Dekohärenz stärker, da die Störungen in der Platte weiter auseinander liegen und somit mehr „Welcher-Weg-Information“ vorhanden ist. Dass der Kontrast der Interferenzstreifen von a bis h geringer wird, liegt außer an der Dekohärenz aber auch daran, dass die endliche Ausdehnung der Elektronenquelle zu einer Verwaschung der Interferenzstreifen führt. Die Verwaschung wirkt sich umso stärker aus, je kleiner der Streifenabstand ist (geringere Winkelkohärenz). Die Verbiegung des Überlappungsbereichs der beiden Teilwellen (der breite 'Fuß') direkt über der Platte kommt durch elektrische Aufladungen von Staubpartikeln auf der Plattenoberfläche zustande. Dies beeinträchtigt die Aussagekraft der Messungen nicht, da in der Nähe der Platte ohnehin nahezu vollständige Dekohärenz auftritt. (Quelle: Peter Sonnentag/Institut für Angewandte Physik)

Die Dekohärenz beschreibt die Entstehung klassischer Eigenschaften – also der Welt, in der es eindeutige Zustände wie ‚tot' und ‚lebendig' gibt – aus einem Quantensystem. Das klassische Verhalten makroskopischer Objekte entsteht durch unvermeidbare, nicht rückgängig zu machende Wechselwirkungen des Quantensystems mit seiner Umgebung. „Ziel der Dekohärenztheorie, an der schon vor 30 Jahren geforscht wurde, ist zu klären, wie klassische Phänomene zustande kommen, wenn doch die Gesetze der Quantenmechanik überall gelten sollen“, erklärt Peter Sonnentag. Die Richtigkeit der Dekohärenztheorie hat er nun exemplarisch an einem Elektron bewiesen. Dazu hat er zunächst gezeigt, dass ein Elektron, das von der Umgebung völlig isoliert ist, das heißt, nicht mit ihr wechselwirkt, sich gemäß der Quantenmechanik verhält. „Dafür bietet man dem Elektron zwei Wege an, auf denen es laufen kann. Die Quantenmechanik besagt, dass das Elektron wie eine Welle gleichzeitig beide Wege nimmt. Das Elektron befindet sich dann in einem Überlagerungszustand ähnlich wie bei Schrödingers Katze“, sagt Sonnentag. In diesem Fall tritt auf einem Bildschirm dort, wo sich die beiden Wege wieder treffen, Interferenz auf. „Das kann man vergleichen mit einer Wasserfläche, auf die an zwei Stellen jeweils ein Wassertropfen fällt. Dabei entstehen Wellen, die sich ausbreiten. Je nachdem, wie Wellenberge und Wellentäler aufeinander treffen, kommt es zu einer Verstärkung oder einer Abschwächung. Auf dem Bildschirm zeigten sich Interferenzstreifen. Da bei uns immer nur ein einzelnes Elektron im Interferometer ist, kann man das sich ergebende Streifenmuster eigentlich nur erklären, wenn man annimmt, dass das Elektron gleichzeitig beide Wege nimmt.“

Die klassischen Teilcheneigenschaften des Elektrons entstehen im vorliegenden Experiment gemäß einem Vorschlag der theoretischen Physiker James R. Anglin und Wojciech H. Zurek dadurch, dass die beiden Wege des Elektrons über eine Platte mit hohem elektrischen Widerstand geführt werden und mit dieser ‚Umgebung' wechselwirken. Das über die Platte fliegende negativ geladene Elektron erzeugt nämlich auf deren Oberfläche eine positive Ladung, die sich mit dem Elektron bewegt. Es entstehen Ströme in der Platte, die einen Widerstand erfahren und die Platte lokal erwärmen. „Wenn die beiden Wege, die das Elektron nehmen kann, gut voneinander getrennt sind, lässt sich im Prinzip feststellen, wo die Platte ein wenig erwärmt ist – dann würde man den Weg des Elektrons kennen“, erklärt Sonnentag. Wenn aber die Weginformation verfügbar ist, verschwindet die Interferenz – dann kommen die klassischen Eigenschaften des Elektrons zum Vorschein. Wie Anglin und Zurek in ihrem Vorschlag schreiben, bedeutet die Wärmeentwicklung in der Platte eine Störung des „Elektronengases“ und der Gitterschwingungen der Atome. Der Quantenmechanik zufolge braucht Sonnentag in seinen Experimenten die Erwärmung beziehungsweise die Störungen in der Platte gar nicht direkt zu messen, es reicht schon, dass die Information darüber, welcher Weg genommen wurde, prinzipiell verfügbar ist. „Durch die Wechselwirkung des Elektrons mit der Platte entsteht ein verschränkter Zustand. Betrachtet man das gesamte System, bestehend aus Elektron und ‚Umgebung', so gilt für dessen Beschreibung nach wie vor die Quantenmechanik. Das Teilsystem Elektron allein aber verhält sich, wenn vollständige Dekohärenz eingetreten ist, scheinbar wie ein klassisches Teilchen“, sagt Sonnentag.

Abb. 2: Schema des Dekohärenz-Experiments (von links nach rechts):

  • Das Elektron, das von der Quelle (ganz links) kommt, hat zwei verschiedene Wege zur Verfügung, um an einer bestimmten Stelle auf dem Bildschirm (ganz rechts) anzukommen – es kann auf beiden Seiten an dem negativ geladenen Metallfaden des so genannten Möllenstedtschen Biprismas vorbeilaufen. Die beiden Wege des Elektrons werden dabei von einander weg gelenkt.
  • Der Quadrupol (die Anordnung aus den vier elektrisch geladenen Zylindern) lenkt sie wieder aufeinander zu.
  • Bevor sie sich aber treffen, verlaufen sie gleichzeitig mit gewissem Abstand voneinander (Δx) in geringer Höhe (z) über einer Platte mit hohem Widerstand. Die influenzierten Ladungen der Elektronenwelle stören die Ladungen in der Platte. Die beiden Wege der Elektronenwelle hinterlassen solche Störungen an verschiedenen Stellen der Platte, somit ist die „Welcher-Weg-Information“ vorhanden.
  • Je geringer die Höhe z ist, mit der die Elektronenwelle über die Platte läuft, desto stärker ist ihre Wechselwirkung mit den Elektronen in der Platte und die lokale Erwärmung der Platte. Eine stärkere Erwärmung unterhalb eines der beiden Wege zeigt an, wo das Elektron gelaufen ist. Das Elektron bekommt Teilcheneigenschaften – der Kontrast der Interferenzstreifen nimmt ab.

(Quelle: Peter Sonnentag/Institut für Angewandte Physik)

Um eine möglichst starke Dekohärenz zu erhalten, hat er in seiner Doktorarbeit als Plattenmaterial wegen dessen hohen elektrischen Widerstands einen Halbleiter gewählt, eine mit Phosphor dotierte Siliziumplatte. Im Experiment wird die Stärke der Dekohärenz in Abhängigkeit von zwei Größen gemessen, der Höhe der Elektronen über der Platte und dem Abstand ihrer beiden Wege. Die Dekohärenz ist umso stärker, je näher die Elektronen an der Platte vorbeifliegen und je weiter voneinander getrennt die Wege über der Platte verlaufen. Die zunehmende Stärke der Dekohärenz zeigt sich in einer Abnahme des Kontrasts der Interferenzstreifen. So erhält man im Experiment direkt Bilder vom Übergang der Quantenmechanik zur klassischen Physik. Dieser Übergang vollzieht sich nicht abrupt, sondern allmählich.

Dieses Experiment bestätigt, dass die grundlegenden Ideen der Dekohärenztheorie richtig sind, und zeigt erstmals in Fotos den kontinuierlichen Übergang vom quantenmechanischen zum klassischen Verhalten. Eine unmittelbare Anwendung für seine Forschungen sehe er derzeit nicht, so der Wissenschaftler, doch das Verständnis der Dekohärenz sei wichtig nicht nur für die Grundlagenprobleme der Quantenmechanik, sondern auch für Anwendungen. Zum Beispiel für die Realisierung eines Quantencomputers, der sehr viel leistungsfähiger sein könnte als ein klassischer Computer: „Eines der Hindernisse beim Bau eines Quantencomputers ist nämlich das in diesem Fall unerwünschte Auftreten von Dekohärenz“, erklärt Peter Sonnentag.

Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen

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