14.11.2018

Alpengletscher im Zeitraffer

Detaillierte Simulation der alpinen Eisausbreitung über 120.000 Jahre.

Vor rund 115.000 Jahren begann die letzte Kaltzeit der Erd­geschichte – und damit eine wechsel­volle Zeit, in der Gletscher aus den Alpen wiederholt ins Mittelland vorstießen, sich zurückzogen und wieder ausdehnten. Dabei hobelten die gewaltigen Eisströme Täler wie das Rhonetal aus und schoben das Gesteins­material – von feinem Sediment bis zu mehreren tausend Tonnen schweren Felsblöcken – mit sich mit. Diese Geschiebe, abgelagert als Moränen, formt heute das hügelige und grüne Alpenvorland. Die tonnen­schweren Blöcke, als Findlinge bekannt, sind verstreut im Mittelland, in Alpentälern oder im Jura zu finden. Doch obwohl Natur­forscher und Wissen­schaftler die Geschichte der Eiszeit­gletscher der Alpen seit nahezu 300 Jahren erforschen, ist es ihnen bis heute nicht gelungen, eindeutig zu klären, welche Klima­entwicklungen zu den großräumigen Verglet­scherungen führten, was die Ausdehnung der Gletscher kontrollierte, wie dick ihr Eispanzer gewesen ist, wie häufig sich die Eisschilde ausdehnten und wieder zurückzogen und was die Ursache dafür war, dass sich das Eis je nach Alpenregion unter­schiedlich stark ausdehnte.

Abb.: Heute sind nur noch die hohen Alpengipfel und ihr Umfeld – im Bild der Piz Palü im Oberengadin – vergletschert. (Bild: P. Rüegg, ETHZ)

Um dies alles besser zu verstehen, simulierte Julien Seguinot von der Versuchs­anstalt Wasserbau, Hydrologie und Glazio­logie der ETH Zürich zusammen mit Forscher­kollegen auf dem CSCS-Supercomputer „Piz Daint“ die Gletscher­entwicklung während der vergangenen 120.000 Jahre in den Alpen. Für die Simu­lationen der Gletscher­entwicklung und der Ausbreitung des Eises nutzten sie ein spezielles Modell (Parallel Ice Sheet Model), das sie mit Daten der anfänglichen Topographie von Gebirgen und Gletschern fütterten, der physika­lischen Eigen­schaften von Gestein und Gletscher, teilweise basierend auf Beobach­tungen aus der Antarktis und Grönland, und Wärmefluss­daten im Erdinneren sowie der klima­tischen Bedin­gungen. Die Grundlagen für letzteres lieferten unter anderem aktuelle Wetter­daten kombiniert mit Paläo-Klimadaten aus Sediment- und Eisbohr­kernen der vergan­genen 120.000 Jahre.

Die Wissen­schaftler führten die Simulationen mit drei unter­schiedlichen Paläo-Klimadaten­sätzen sowie zwei verschiedenen Niederschlags­szenarien durch. Nur einer der Klimadaten­sätze lieferte Resultate, die mit den geologischen Belegen über­einstimmen, welche die Gletscher in Gestein und Sediment hinter­lassen haben. Das Ergebnis dieser Simulation zeigt, dass sich die Gletscher der Alpen öfter ausbrei­teten und wieder zurück­zogen als bisher angenommen. Lange Zeit gingen Glazio­logen von mindestens vier Vorstößen aus. Diese niedrige Zahl wurde seit den 1980er-Jahren jedoch mehrfach infrage gestellt. Die Simulation zeigt nun, dass sich einige Alpen­gletscher in den vergan­genen 120.000 Jahren bis zu mehr als zehn Mal ausbreiteten und wieder zurückzogen.

Abb.: Vorstoß und Rückzug der Alpen-Gletscher während der letzten Eiszeit. (Video: J. Seguinot, ETHZ)

Gemäß dem Modell dehnten sich die Gletscher vor rund 25.000 Jahren am stärksten aus und drangen bis ins Alpen­vorland vor: In der Schweiz bis etwa nach Bern, Zürich und in den Boden­seeraum bis nach Schaffhausen, im angren­zenden Deutschland fast bis nach München. Die Kaltzeit ging dann im Laufe von einigen tausend Jahren allmählich in die heutige Warmzeit über. Kalt- und Warmzeiten wechseln sich in einem Eiszeitalter ab. Grund­sätzlich befindet sich die Erde momentan in einem Eiszeit­alter. Das ist immer der Fall, wenn mindestens einer der Pole von Eis bedeckt ist. Aus einer detail­lierten Analyse einer weiteren Simulation, die die Verglet­scherung der vergangenen 120.000 Jahre bis auf einen Kilometer auflöst, zogen die Forscher den Schluss, dass das Eis während dem Höchst­stand der Vereisung viel dicker gewesen sein muss als bis anhin vermutet: Im oberen Rhonetal beispiels­weise bis zu 800 Meter dicker.

Die Forscher räumen Unsicher­heiten in den Ergebnissen ein, verursacht durch die verein­fachte Beschreibung der Prozesse zwischen Gletscher und Gletscher­bett sowie der Klima­bedingungen. Für Seguinot lag die Schwierigkeit bei der Simulation jedoch vor allem in der Interpretation der vorhandenen Daten: Karten von Gletscher­spuren wie Moränen, Findlingen und der Richtung des Eisflusses, die über die vergangenen 300 Jahren gesammelt wurden. „Computermodelle wie PISM auf Super­computern wie Piz Daint zu berechnen, ermöglicht uns die Rekon­struktion der Vergletscherungs­geschichte in einer nie dage­wesenen Auflösung“, sagt Seguinot. Um solche Resultate zu validieren, bräuchte es aber mehr syste­matisch in digitalen Karten und über Landes- und Sprach­grenzen hinweg erfasste Daten.

ETHZ / JOL

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