05.07.2013

Alte Theorie in neuem Licht

Das Bohrsche Atommodell ist hundert Jahre alt. Welche Bedeutung hat es heute noch?

Vor hundert Jahren stellte Niels Bohr sein Atommodell vor, das die Entwicklung der Quantentheorie über seine Zeit hinaus prägen sollte. Der Durchbruch gelang Bohr mit der Herleitung der Balmer-Formel für die Spektrallinien des Wasserstoffs, die als empirische Regel schon seit fast dreißig Jahren bekannt gewesen war. Welche Grundprinzipien aber leiten Bohr bei der Entwicklung der neuen Theorie?

Abb. Niels Bohr (1885 – 1962) (Foto: Deutsches Museum).

Er arbeitet mit einer klassischen Theorie, welche die beobachteten Phänomene nicht zufriedenstellend beschreiben kann. Daher ergänzt Bohr sie um Ad-hoc-Annahmen. Anfangs steht seine neue Theorie auf wackeligen Beinen. Die nur noch teilweise gültigen klassischen Vorstellungen erschweren die Interpretation. Die Gefahr von Inkonsistenzen lauert überall. Ähnlich grundsätzlichen Problemen begegnen wir heute vielleicht nur im Grenzgebiet von Quantenmechanik und Allgemeiner Relativitätstheorie.

Zur entscheidenden Quantisierungsvorschrift gelangt Bohr mehrfach auf unterschiedlichem Weg, zunächst direkt über Bedingungen an Energien und Übergangsfrequenzen, später nochmals durch die Quantisierung des Drehimpulses. Die Drehimpulsquantisierung ist es, die in Ihrer Verallgemeinerung als Wirkungsquantisierung die Entwicklung der folgenden Jahre bestimmen wird – die Ära, auf die wir heute als Bohr-Sommerfeldsche Quantentheorie zurückblicken. Bereits in den Arbeiten von 1913 erkennt man als Leitmotiv den Gedanken, den Bohr erst einige Jahre später als das Korrespondenzprinzip beschreiben wird.

„Für große Quantenzahlen müssen die Vorhersagen der Quantentheorie in die der klassischen Physik übergehen“: So lernen wir das Korrespondenzprinzip heute meist kennen. Oft reduzieren wir es dann vorschnell auf eine reine Konsistenzbedingung, die verlangt, dass eine neue Theorie ihre Vorgänger als Grenzfall enthalten muss. Dies greift jedoch zu kurz. Für die Bohr-Sommerfeldsche Quantentheorie war das Korrespondenzprinzip weit mehr. Es war Bestandteil der Theorie selbst. Die Quantisierungsregeln bestimmten zwar Energieniveaus und mögliche Übergangsfrequenzen, doch nur mithilfe des Korrespondenzprinzips machte die Theorie auch Vorhersagen über Auswahlregeln sowie über Intensität und Polarisation der emittierten Strahlung.

Bald nachdem die alte Quantentheorie durch die Quantenmechanik abgelöst worden war, konnte gezeigt werden, dass sich die Bohr-Sommerfeldschen Regeln aus der Quantenmechanik herleiten lassen, und zwar im semiklassischen Limes. Das ist der Grenzfall, in dem die klassische Wirkung groß gegenüber dem Planckschen Wirkungsquantum ist. Das Korrespondenzprinzip manifestierte sich nun als Semiklassik, als Quantenmechanik mithilfe klassischer Bahnen. In dieser Form erreichte es Jahre später eine neue, bis heute anhaltende Aktualität beim Studium der Quantenmechanik chaotischer Systeme.

Zunächst waren chaotische Systeme der Bohr-Sommerfeldschen Beschreibung nicht zugänglich, wie Albert Einstein bereits 1917 erkannt hatte. Um 1970 zeigte jedoch Martin Gutzwiller, dass klassische Bahnen sehr wohl eine Rolle bei der quantenmechanischen Beschreibung chaotischer Systeme spielen, wenn man nur statt individueller Energieniveaus die gesamte Zustandsdichte betrachtet. Durch die Gutzwillersche Spurformel findet die Semiklassik heute Anwendung in so unterschiedlichen Bereichen wie der Kern- oder Festkörperphysik.

Auch das Bohrsche Atommodell selbst kehrte auf Umwegen zurück auf die Bühne der Wissenschaft. Bringt man das Wasserstoffatom in ein sehr starkes Magnetfeld, so verwandeln sich die regulären Kepler-Ellipsen in chaotische Bahnen. In den 1980er Jahren zeigten Harald Friedrich und Dieter Wintgen, dass sich die Quantenmechanik dieses Systems tatsächlich sehr gut mithilfe dieser klassischen Bahnen verstehen lässt – die chaotische Wiedergeburt des Bohrschen Atommodells.

Als Semiklassik lebt die Bohrsche Quantentheorie damit noch heute in vielen Bereichen der Physik erfolgreich weiter. Das Bohrsche Korrespondenzprinzip als Leitgedanke ist ohnehin auch hundert Jahre nach der Veröffentlichung des Atommodells so aktuell wie damals. So feiern wir dieses Jahr zu Recht das hundertjährige Jubiläum einer der wichtigsten Arbeiten Niels Bohrs, eines prägenden Denkers des 20. Jahrhunderts.

Dieser Diskurs von Stefan Keppeler von der Universität Tübingen ist in der neuen Ausgabe von Physik in unserer Zeit erschienen und steht dort zum freien Download bereit. Er kommentiert einen historischen Beitrag von Michael Eckert (Deutsches Museum) über den Beginn der modernen Atomtheorie (Artikel nur für Abonnenten frei).

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