16.04.2015

Anionen in der Endlosschleife

Elektrostatischer Ultravakuum-Speicher­ring erlaubt Be­stim­mung der Lebens­dauer anio­ni­scher Anre­gungs­zustände.

Negativ geladene Ionen sind Quantensysteme mit ganz eigenen Charakte­ristika. Im Gegensatz zu neutralen Atomen oder Kationen besitzen Anionen häufig nur einen einzigen oder wenige Anregungs­zustände mit nicht allzu hohen Anregungs­energien. Zugleich spielen Anionen für viele astro­chemische Prozesse eine wichtige Rolle. In der Iono­sphäre von Planeten oder in Staub­wolken können Anionen bei Kollisionen mit neutralen Atomen und Molekülen die Bildung von kohlen- oder stickstoff­haltigen Molekül­ketten anregen. Außerdem eignen sie sich wegen der Interaktion der Elektronen untereinander hervorragend als Testobjekte für die Mehrteilchen-Quantenphysik.

Die Bindung von Elektronen in Anionen ist durch die Polarisierung der Elek­tronen­wolke durch das zusätzliche Elektron bedingt. Hierdurch treten Korre­lations­effekte auf und das resul­tierende Potenzial ist nicht Coulomb-förmig. Die Analyse der Eigen­schaften von Anionen gestaltet sich jedoch schwierig: Sie lassen sich aufgrund ihrer Ladung und Polarisier­barkeit nicht in engen Fallen zusammen­quetschen, ohne ihre Zerfalls­eigen­schaften zu beeinflussen.

Abb.: Elektrostatische Felder halten einen negativ geladenen Ionenpuls im Kreis­verkehr. Mit einem Laser lassen sich über­schüs­sige Elektronen entfernen, worauf die dann neutralen Atome den Ring verlassen. (Bild: APS / A. Stonebraker)

Aus diesem Grund sind weltweit mehrere Experimente im Aufbau oder bereits angelaufen, die Anionen in kalten Hoch­vakuum-Speicher­ringen unter­suchen sollen. Das hohe Vakuum wird benötigt, da viele Anionen sehr langlebige Anregungs­zustände aufweisen und deshalb lange Zeit ungestört kreisen müssen. Aufgrund von Symmetrie­bedingungen und quanten­mecha­nischen Auswahl­regeln ist etwa der 2Po1/2-Zustand von anionischem Schwefel-32 metastabil, da elektrische Dipolübergänge in den Grundzustand verboten sind. Nach der Theorie sollte dieser Zustand dementsprechend eine sehr lange Zerfallszeit von 437 Sekunden besitzen.

Wissenschaftler der Universität Stockholm haben nun ihren neuen Double-Electro­static Ion Ring Experiment DESIREE genutzt, um die Lebens­dauer dieses Schwefel-32-Zustands mit bislang unerreichter Genauigkeit zu vermessen. Der prinzi­pielle Aufbau des Experiments gestaltete sich einfach: Ein Injektor schickte einen gepulsten Strahl aus Schwefel-Anionen mit einer kinetischen Energie von zehn Kilo­elektronen­volt auf den 8,6 Meter umfas­senden Kreis­kurs. Elektro­statische Ablenk­felder hielten den Strahl in der Spur. Dieses Design ist im Vergleich zu elektro­magne­tischen Feldern zwar in der Strahl­energie beschränkter, dafür jedoch kompakter und auch für schwerere Atome und Moleküle ausgelegt.

Besonders wichtig waren Umgebungs­bedingungen, die die natürliche Zerfallszeit des 2Po1/2-Zustands nicht künstlich verringerten. DESIREE erlaubt dank guter thermischer Abschirmung einer­seits Tempera­turen von knapp über zehn Kelvin, was zu niedriger Schwarz­körper­strahlung führt. Andererseits erreichten die Wissen­schaftler ein ultra­hohes Vakuum von wenigen 10-14 Millibar. Damit kamen Speicher­zeiten von bis zu über einer Stunde in Reichweite – genug, um die langlebigen Anregungs­zustände mit hoher Präzision zu messen.

Da die empfindlichen Zustände aber schwer direkt beobachtbar sind und die Wellenlänge des Übergangs bei nur rund zwanzig Mikro­metern liegt, nutzten die Forscher eine spezielle Methode für den Nachweis: Mit einem Laser, der senkrecht zum Ionen­strahl stand und jeweils nur für kurze Zeit ange­schaltet war, entfernten sie bei einigen Anionen das zusätz­liche Elektron. Die Laser­energie stellten sie dabei auf zwei verschiedene Stufen ein: Einmal so, dass sie nur ausreichte, um die angeregten Elektronen heraus zu schießen, nicht aber die im Grund­zustand. Im zweiten Modus war sie für beide Fälle stark genug. Die dann neutralen Atome ließen sich nicht mehr durch die Ablenkfelder im Kreisverkehr halten und liefen geradeaus auf eine Mikro­kanal­platte, wo die Forscher die Rate der eintref­fenden Schwefel­atome messen konnten.

Durch Vergleich der beiden Zerfallskurven ermittelten sie die Zerfallszeit des Anregungs­zustands zu 503 ± 54 Sekunden, was die bislang längste experi­mentell bestimmte Lebens­dauer negativ geladener Ionen ist. Dieser Wert liegt etwas, aber nicht deutlich über dem theoretisch erwarteten Wert von 437 Sekunden. Der Grund­zustand besaß eine Lebens­dauer im Speicher­ring von rund 940 Sekunden. Auch nach über einer Stunde Laufzeit konnten die Wissenschaftler noch Anionen im Strahl nachweisen.

Aber auch andere Messungen haben Diskrepanzen zwischen Experiment und Theorie gezeigt. So besitzen die schwereren Selen- und Tellur-Anionen kürzere Zerfalls­zeiten als erwartet. Dies könnte eine neue Einschätzung der Berech­nungs­methoden notwendig machen. Auf jeden Fall zeigen diese Ergeb­nisse, dass man auch mit sehr kompakten Speicher­ringen Neues über die Natur heraus­finden kann.

Dirk Eidemüller

OD

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