Anionen in der Endlosschleife
Elektrostatischer Ultravakuum-Speicherring erlaubt Bestimmung der Lebensdauer anionischer Anregungszustände.
Negativ geladene Ionen sind Quantensysteme mit ganz eigenen Charakteristika. Im Gegensatz zu neutralen Atomen oder Kationen besitzen Anionen häufig nur einen einzigen oder wenige Anregungszustände mit nicht allzu hohen Anregungsenergien. Zugleich spielen Anionen für viele astrochemische Prozesse eine wichtige Rolle. In der Ionosphäre von Planeten oder in Staubwolken können Anionen bei Kollisionen mit neutralen Atomen und Molekülen die Bildung von kohlen- oder stickstoffhaltigen Molekülketten anregen. Außerdem eignen sie sich wegen der Interaktion der Elektronen untereinander hervorragend als Testobjekte für die Mehrteilchen-Quantenphysik.
Die Bindung von Elektronen in Anionen ist durch die Polarisierung der Elektronenwolke durch das zusätzliche Elektron bedingt. Hierdurch treten Korrelationseffekte auf und das resultierende Potenzial ist nicht Coulomb-förmig. Die Analyse der Eigenschaften von Anionen gestaltet sich jedoch schwierig: Sie lassen sich aufgrund ihrer Ladung und Polarisierbarkeit nicht in engen Fallen zusammenquetschen, ohne ihre Zerfallseigenschaften zu beeinflussen.
Abb.: Elektrostatische Felder halten einen negativ geladenen Ionenpuls im Kreisverkehr. Mit einem Laser lassen sich überschüssige Elektronen entfernen, worauf die dann neutralen Atome den Ring verlassen. (Bild: APS / A. Stonebraker)
Aus diesem Grund sind weltweit mehrere Experimente im Aufbau oder bereits angelaufen, die Anionen in kalten Hochvakuum-Speicherringen untersuchen sollen. Das hohe Vakuum wird benötigt, da viele Anionen sehr langlebige Anregungszustände aufweisen und deshalb lange Zeit ungestört kreisen müssen. Aufgrund von Symmetriebedingungen und quantenmechanischen Auswahlregeln ist etwa der 2Po1/2-Zustand von anionischem Schwefel-32 metastabil, da elektrische Dipolübergänge in den Grundzustand verboten sind. Nach der Theorie sollte dieser Zustand dementsprechend eine sehr lange Zerfallszeit von 437 Sekunden besitzen.
Wissenschaftler der Universität Stockholm haben nun ihren neuen Double-Electrostatic Ion Ring Experiment DESIREE genutzt, um die Lebensdauer dieses Schwefel-32-Zustands mit bislang unerreichter Genauigkeit zu vermessen. Der prinzipielle Aufbau des Experiments gestaltete sich einfach: Ein Injektor schickte einen gepulsten Strahl aus Schwefel-Anionen mit einer kinetischen Energie von zehn Kiloelektronenvolt auf den 8,6 Meter umfassenden Kreiskurs. Elektrostatische Ablenkfelder hielten den Strahl in der Spur. Dieses Design ist im Vergleich zu elektromagnetischen Feldern zwar in der Strahlenergie beschränkter, dafür jedoch kompakter und auch für schwerere Atome und Moleküle ausgelegt.
Besonders wichtig waren Umgebungsbedingungen, die die natürliche Zerfallszeit des 2Po1/2-Zustands nicht künstlich verringerten. DESIREE erlaubt dank guter thermischer Abschirmung einerseits Temperaturen von knapp über zehn Kelvin, was zu niedriger Schwarzkörperstrahlung führt. Andererseits erreichten die Wissenschaftler ein ultrahohes Vakuum von wenigen 10-14 Millibar. Damit kamen Speicherzeiten von bis zu über einer Stunde in Reichweite – genug, um die langlebigen Anregungszustände mit hoher Präzision zu messen.
Da die empfindlichen Zustände aber schwer direkt beobachtbar sind und die Wellenlänge des Übergangs bei nur rund zwanzig Mikrometern liegt, nutzten die Forscher eine spezielle Methode für den Nachweis: Mit einem Laser, der senkrecht zum Ionenstrahl stand und jeweils nur für kurze Zeit angeschaltet war, entfernten sie bei einigen Anionen das zusätzliche Elektron. Die Laserenergie stellten sie dabei auf zwei verschiedene Stufen ein: Einmal so, dass sie nur ausreichte, um die angeregten Elektronen heraus zu schießen, nicht aber die im Grundzustand. Im zweiten Modus war sie für beide Fälle stark genug. Die dann neutralen Atome ließen sich nicht mehr durch die Ablenkfelder im Kreisverkehr halten und liefen geradeaus auf eine Mikrokanalplatte, wo die Forscher die Rate der eintreffenden Schwefelatome messen konnten.
Durch Vergleich der beiden Zerfallskurven ermittelten sie die Zerfallszeit des Anregungszustands zu 503 ± 54 Sekunden, was die bislang längste experimentell bestimmte Lebensdauer negativ geladener Ionen ist. Dieser Wert liegt etwas, aber nicht deutlich über dem theoretisch erwarteten Wert von 437 Sekunden. Der Grundzustand besaß eine Lebensdauer im Speicherring von rund 940 Sekunden. Auch nach über einer Stunde Laufzeit konnten die Wissenschaftler noch Anionen im Strahl nachweisen.
Aber auch andere Messungen haben Diskrepanzen zwischen Experiment und Theorie gezeigt. So besitzen die schwereren Selen- und Tellur-Anionen kürzere Zerfallszeiten als erwartet. Dies könnte eine neue Einschätzung der Berechnungsmethoden notwendig machen. Auf jeden Fall zeigen diese Ergebnisse, dass man auch mit sehr kompakten Speicherringen Neues über die Natur herausfinden kann.
Dirk Eidemüller
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