22.11.2018

Anomale Kristalle

Ungewöhnliche Silizium­oxid-Kristalle geben Aufschluss über Silikat­schmelzen im Erdinneren.

Forscher der Universität Bayreuth haben außer­gewöhnliche Kristall­strukturen hergestellt, die den klassischen Regeln der Kristall­chemie wider­sprechen. Es handelt sich um Phasen, die aus dem Mineral Coesit entstehen. Die anomalen Strukturen bieten wertvolle Ansatz­punkte, um die atomaren Strukturen von Silikat­schmelzen im Erd­inneren zu entschlüsseln und die Entstehung von Planeten besser zu verstehen. Zugleich werden sich seis­mische Beobachtungen mit größerer Genauigkeit inter­pretieren lassen.

Abb.: Anomale Kristalle: Kristallstrukturen von Coesit IV und Coesit V mit SiO4-Tetraedern, SiO5-Polyedern und SiO6-Oktaedern. (Bild: L. Dubrovinsky / Nat. Commun.)

Siliziumoxide kommen in einer Vielzahl von Modi­fikationen vor. Quarz zählt zu dieser großen Familie. Für die Kristall­struktur des Quarzes und der anderen Silizium­dioxide, die in der Erdkruste enthalten sind, ist ein Gerüst aus SiO4-Tetraedern charak­teristisch. Im Detail ist die Struktur der Kristalle allerdings von den Druck- und Temperatur­verhältnissen in der Umgebung abhängig. Sobald Quarz – das zweit­häufigste Mineral der Erdkruste – von der Erdober­fläche in eine Tiefe von rund siebzig Kilometern gelangt, verwandelt es sich in Coesit. Dieses Mineral ist über­raschend wandlungs­fähig. So bilden sich bei Drücken bis zu dreißig Gigapascal die Coesit-Phasen I, II und III heraus, ohne dass sich die SiO4-Tetraeder ändern.

Nun aber haben die Bayreuther Wissen­schaftler in Kooperation mit dem Deutschen Elektronen-Syn­chrotron DESY in Hamburg die weiteren Coesit-Phasen IV und V entdeckt. Deren Gerüst setzt sich nicht mehr einheit­lich aus SiO4-Tetra­edern zusammen, vielmehr sind auch SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder darin enthalten. Diese anomalen Strukturen öffnen eine Tür für Unter­suchungen des tiefen Erdinneren, wie sie bisher nie möglich waren. Unter extrem hohen Drücken und Tempera­turen können im unteren Erdmantel Silikat­schmelzen entstehen, deren atomare Strukturen bis heute unbekannt sind. Die Schmelzen liefern im Unterschied zu festen Kristall­strukturen keine eindeutigen Röntgen­beugungsmuster.

Um dennoch Material­strukturen in diesen Schmelzen identi­fizieren zu können, bleibt nur ein Umweg: Jede Kristall­struktur besitzt eine Kenngröße, die Paar­verteilungs­funktion. Sie zeigt an, wie hoch die Wahr­scheinlichkeit ist, dass sich innerhalb eines Kristalls in einer defi­nierten Entfernung von einem Atom ein weiteres Atom befindet. Falls eine feste Kristall­struktur eine Paar­verteilungs­funktion besitzt, die der Paar­verteilungs­funktion von geschmolzenen Silikaten ähnelt, ist dies ein wichtiges Indiz für den atomaren Aufbau der Schmelze. Bisher war allerdings für Silikat­schmelzen und Silikat­glas keine derartige Kristall­struktur bekannt.

Den Wissen­schaftlern ist es jedoch gelungen, die Paar­verteilungs­funktionen der Coesit-Phasen IV und V zu identi­fizieren. Dabei haben sie festgestellt, dass die ermittelten Werte den bekannten Paar­verteilungs­funktionen von kompri­mierten Silikaten und geschmolzenem Basalt überraschend nahe kommen. Bei Drücken von mehr als 45 Gigapascal besitzen die beiden Coesit-Phasen sogar die gleiche Dichte wie Silikat­glas, das durch Schmelz­prozesse entsteht. „Diese Überein­stimmungen sind ein starkes Indiz dafür, dass die äußerst ungewöhnlichen Strukturelemente von Coesit IV und V in Silikat­schmelzen im tiefen Erdinneren vorkommen. Diese Schmelzen haben, wie wir heute glauben, bei der Entstehung der Erde – insbe­sondere der Differen­zierung von Erdkern und Erdmantel – eine zentrale Rolle gespielt. Für ein genaueres Verständnis dieses Prozesses liefern uns die unge­wöhnlichen Coesit-Phasen wertvolle Anhalts­punkte“, erklärt Projekt­leiter Leonid Dubrovinsky.

Die Forscher vermuten, dass die struk­turellen Anomalien – vor allem die SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder, die gemeinsame Flächen haben – eine geringere Material­dichte in den Schmelzen verursachen. „Diese unge­wöhnlichen Bausteine könnten dazu führen, dass sich Schall­wellen in geschmol­zenen Bereichen des Erdinneren deutlich langsamer fortsetzen. Insofern liefern die Analysen von Coesit IV und V wertvolle Hinweise für die Inter­pretation seismischer Daten. Sie können die Beziehungen zwischen tiefen Schmelzen und Vul­kanismus sowie zwischen tiefen Schmelzen und Erdbeben erklären helfen“, erläutert Natalia Dubro­vinskaia vom Labor für Kristallo­graphie der Universität Bayreuth.

Die höchst unge­wöhnlichen Strukturen von Coesit IV und Coesit V durchbrechen die bis heute von der Fachwelt anerkannten Verknüpfungs­regeln, die der US-ameri­kanische Chemiker und Nobelpreis­träger Linus Pauling im Jahr 1954 für Kristalle aufgestellt hat. Diese Regeln postulieren insbesondere, dass die Anzahl verschiedener Bau­elemente eines Kristalls dazu tendiert, möglichst klein zu sein, und dass gemeinsame Flächen zweier Polyeder die Stabilität der Struktur verringern und daher unwahr­scheinlich sind. Dessen ungeachtet besitzen die jetzt entdeckten Strukturen bis zu drei verschiedene Bau­elemente – SiO4-Tetraeder, SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder – und SiO6-Oktaeder haben gemeinsame Flächen. „Es hat ein Jahr gedauert, bis wir durch Unter­suchungen in verschiedenen Synchrotron­anlagen beweisen konnten, dass diese Strukturen tat­sächlich exis­tieren“, sagt Forscherin Elena Bykova.

U. Bayreuth / JOL

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