27.12.2017

Anti-Neutrinos oszillieren anders

Jahresrückblick Kern- und Astro-/Teilchenphysik 2017.

Vor gut fünf Jahren wurde das Higgs-Boson gefunden. Die Bestimmung der vielen verschie­denen Zerfalls­kanäle dieses schweren Teilchens ist ein wichtiger Test für das Standardmodell der Teilchenphysik, das bislang allen Angriffen stand gehalten hat. Obwohl der Zerfall in b-Quarks die häufigste Zerfallsart sein sollte, versteckte sich dieser bisher in den Daten. Denn solche Higgs-Boson-Zerfälle sind nur schwer von zahlreichen ähnlichen Prozessen auseinander zu halten. Dank umfangreicher Daten aus neuen Mess­kampagnen gelang nun dem Team am ATLAS-Detektor dieser Nachweis, der in Einklang mit dem Standardmodell ist.

Abb.: Bei diesem Ereignis könnte es sich um den gesuchten Zerfall eines Higgs-Teilchens in Quarks handeln. (Bild: ATLAS-Kollabo­ration)

Eine wichtige Neuigkeit gibt es bei den Neutrinos: Die Tokai-to-Kamiokande-Kollaboration T2K hat deutliche Hinweise darauf gefunden, dass die CP-Symmetrie bei Neutrinos verletzt ist. Myon-Neutrinos, die von einem Protonen­beschleuniger bei Tokai erzeugt werden, oszillieren auf ihrem unterirdischen Weg zum Kamiokande-Detektor anders als ihre Anti­teilchen. Endgül­tigen Aufschluss wird aber erst die nächste Generation von Neutrino-Detektoren geben können.

Auch vom Quark-Gluon-Plasma gibt es Neues zu berichten: Forscher am Ionen­beschleu­niger Relativistic Heavy Ion Collider haben diesen Materie­zustand untersucht, wie er bei extrem hoch­energe­tischen Teilchen­kollisionen entsteht. Dabei konnten die Forscher die schnellsten Strudel überhaupt entdecken: Bis zu zehn Milliarden Billionen Umdre­hungen in der Sekunde macht diese extrem dünn­flüssige Materie. Und ein Elementar­teilchen ist geschrumpft: Spektro­skopische Präzisionsmessungen an normalem Wasserstoff bestätigen die vor einigen Jahren an myonischem Wasserstoff gemachte Radiusbestimmung des Protons. Alles deutet darauf hin, dass das Proton kleiner ist als der internationale Literaturwert. Auch hier werden kommende Messungen mit Spannung erwartet.

Abb.: Blick von unten in das GERDA-Experiment: Zu erkennen sind die Faser­hülle des Flüssig­argon-Vetos und der Kupferkopf, an dem die Aufhängung mit Germanium-Detektoren befestigt wird. (Bild: V. Wagner, GERDA)

Vor Kurzem stand ein großes Jubiläum für die Kernphysik an: Vor sechzig Jahren ging mit dem Forschungs­reaktor München (FRM) der erste deutsche Reaktor in Betrieb. Dies war nicht nur die Geburtsstunde der deutschen Neutronenforschung sowie des Wissenschaftsstandorts Garching, sondern auch ein wichtiger Schritt zur Re-Internationa­lisierung der Forschung nach dem Ende des Nazi-Regimes. Neutronen­strahlung findet sich jedoch nicht nur in der Nähe von Brennstäben, sondern auch in der Atmosphäre. Wie eine japanische Forscher­gruppe nachweisen konnte, vermögen auch Blitze Kern­reak­tionen zu verur­sachen. Die Neutronen stammen gleichwohl nicht aus Fusions­prozessen, sondern aus photo­nuklearen Reaktionen.

Ein ungelöstes Problem, mit dem nicht nur die Betreiber von Atom­kraft­werken, sondern – in deutlich kleinerem Umfang – auch die von Forschungs­reaktoren zu kämpfen haben, ist die verant­wortungs­volle lang­fristige Lagerung von Atommüll. Eine Möglichkeit, hoch­radio­aktive Stoffe möglichst stabil und chemisch inert zu fixieren, besteht im Einschmelzen in Glaskokillen. Wie Simulationen zeigen, könnte es um die dauerhafte Beständigkeit dieser Kokillen allerdings weniger gut bestellt sein als erhofft. Radioaktive Strahlung könnte Quarzglas flüssig machen. Bis zur End­lagerung müssen Atommüll-Behälter aber erst einmal viele Jahre in einem Zwischen­lager liegen. Zu dessen Über­wachung bieten sich Neutrinod­etektoren an. Diese könnten die Entwendung von radio­aktivem Material oder eine größere Leckage nach­weisen. Das ist nicht zuletzt zur Sicher­stellung der Nicht­verbreitung von atomwaffen­fähigem Material wichtig, weshalb sich auch internationale Kontrollbehörden dafür interessieren.

Abb.: Der Krebsnebel – Überrest einer Super­nova (Bild: ESO)

Der Krebsnebel ist eine der wichtigsten Quellen hoch­energe­tischer Strahlung und mit einer Entfernung von rund 6300 Lichtjahren zugleich eines der am besten unter­suchten astrono­mischen Objekte. Die vom Pulsar in seinem Zentrum erzeugte Strahlung warf bislang jedoch einige Fragen auf. Ihr Spektrum schien nur mit Hilfe mehrerer unabhängiger Popula­tionen von Teilchen erklärbar zu sein. Neue Ansätze, die das Wechselspiel der verschiedenen Prozesse bei der Teilchenbeschleunigung berücksichtigen, können die beobachtete Strahlung aber doch mit nur einer Teilchenpopulation erklären. Ausbrüche hochenergetischer Gamma­strahlen im Krebs­nebel wiederum liegen wohl an Plasmablasen im Pulsarwind, die auf dem Weg zur Schockfront stark beschleunigt werden und ihre Energie als Synchrotronstrahlung abgeben.

Noch sehr viel energiereichere Strahlung misst das Pierre-Auger-Observa­torium in der argenti­nischen Provinz Mendoza. Bei extrem hohen Energien zeichnet sich in diesen Daten eine Anisotropie ab: Die Vorzugs­richtung dieser Strahlung liegt nicht in Richtung des galak­tischen Zentrums, stammt also vermutlich aus extra­galak­tischen Quellen. Bei anderen kosmischen Teilchen bleibt der Ursprung ebenfalls noch rätselhaft: Sowohl Satelliten­experi­mente wie Messungen an Bord der Interna­tionalen Raum­station haben eine unerwartet große Menge an Positronen gefunden. Zwei als Urheber verdächtige Pulsare konnten nun von der Liste verdächtiger Quellen gestrichen werden, dunkle Materie hingegen noch nicht.

Auch die Suche nach dem neutrinolosen doppelten Betazerfall geht weiter. Dieser exotische Zerfall könnte ein entschei­dender Hinweis auf die Natur der Neutrinos sein und bei der Beantwortung der Frage helfen, warum mehr Materie als Anti­materie im Universum zu finden ist. Bislang lassen sich jedoch nur obere Grenzen für die Zerfalls­wahr­schein­lich­keit angeben. Der technische Fort­schritt bei der Entwicklung extrem sensibler Detektoren ist allerdings beachtlich. So hat das Neutrino-Experiment GERDA im Untergrund-Labor von Gran Sasso praktisch sämtliche Stör­signale eliminiert und kann nun ohne Hintergrund messen. Das Experiment XENON1T befindet sich ebenfalls tief unter dem Gran-Sasso-Gebirgs­massiv und nutzt die sehr gute Abschirmung vor der kosmischen Strahlung, um nach Wechsel­wirkungen gewöhn­licher Materie mit dunkler Materie zu suchen. Den Wissenschaftlern dort ist es ebenfalls gelungen, ihren Detektor fast komplett von störender Strahlung zu isolieren. Die ersten Ergeb­nisse sind viel­ver­sprechend und übertreffen in ihrer Empfind­lich­keit alle früheren Messungen.

Abb.: Myonen offen­baren eine bisher verborgene Kammer in der Cheops-Pyramide. (Bild: ScanPyramids mission)

Kosmische Strahlung ist aber nicht immer nur lästig und verfälscht Messungen: Sie lässt sich auch ganz praktisch nutzen. Mit Hilfe von Myonen aus der Höhen­strahlung konnte ein gemischtes Team aus Physikern und Archäo­logen die Cheops-Pyramide durchleuchten. Dabei zeichnete sich über­raschend ein dreißig Meter langer, bislang unbekannter Hohl­raum ab, über dessen genaue Lage sich aller­dings noch keine genaue Aussage machen lässt. Ein anderes Team aus Physikern und Geo­logen hat ebenfalls mit kosmischen Myonen den Gletscher auf dem Jungfraujoch vermessen und ist dabei auf markante Erosions­prozesse gestoßen.

Ultraschnelle atomare Prozesse sichtbar zu machen, ist ein besonders wichtiges Einsatzgebiet von Freie-Elektronen-Lasern. Dank einer neuen Technik ließ sich die Puls­länge der entstehenden Laserpulse nochmals verringern – bis in den Atto­sekunden­bereich. Eine spezielle Ansteuerung der Kavitäten ermöglicht auch ohne größere appara­tive Modifika­tionen die Erzeugung harter und ultra­kurzer Röntgenpulse. Es geht aber auch umgekehrt: Mit direkter Laser­beschleu­nigung lassen sich ultra­kurze, relativis­tische Elektronen­pulse erzeugen. Wissen­schaftlern am Max-Born-Institut gelang dies mit extrem starken und fokus­sierten Laser­pulsen.

Anstatt Zeit mit dem Schreiben von Anträgen für Messzeit an Groß­forschungs­einrich­tungen zu verbringen, würden viele Wissen­schaftler sich lieber einen kleinen Beschleu­niger auf den Labor­tisch stellen. Ein neu­artiger Laser-Plasma-Elektronen­beschleu­niger überzeugt nun mit hoher Wieder­holungs­rate und kurzer Puls­dauer. Wer es dennoch gerne ein bisschen größer hätte, muss künftig zumindest keine langen Weg­strecken mehr auf sich nehmen: In Hamburg ist mit dem European XFEL eine führende Röntgen­laser­quelle entstanden und hat mittler­weile den Betrieb aufge­nommen. Und das Berliner BESSY II wird zum variablen Pulslängenspeicherring BESSY VSR aufgerüstet und soll so künftig die Lücke zwischen Speicher­ringen wie PETRA III und Freie-Elek­tronen-Lasern schließen.

Dirk Eidemüller

OD

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