Anti-Neutrinos oszillieren anders
Jahresrückblick Kern- und Astro-/Teilchenphysik 2017.
Vor gut fünf Jahren wurde das Higgs-Boson gefunden. Die Bestimmung der vielen verschiedenen Zerfallskanäle dieses schweren Teilchens ist ein wichtiger Test für das Standardmodell der Teilchenphysik, das bislang allen Angriffen stand gehalten hat. Obwohl der Zerfall in b-Quarks die häufigste Zerfallsart sein sollte, versteckte sich dieser bisher in den Daten. Denn solche Higgs-Boson-Zerfälle sind nur schwer von zahlreichen ähnlichen Prozessen auseinander zu halten. Dank umfangreicher Daten aus neuen Messkampagnen gelang nun dem Team am ATLAS-Detektor dieser Nachweis, der in Einklang mit dem Standardmodell ist.
Abb.: Bei diesem Ereignis könnte es sich um den gesuchten Zerfall eines Higgs-
Eine wichtige Neuigkeit gibt es bei den Neutrinos: Die Tokai-to-Kamiokande-Kollaboration T2K hat deutliche Hinweise darauf gefunden, dass die CP-Symmetrie bei Neutrinos verletzt ist. Myon-Neutrinos, die von einem Protonenbeschleuniger bei Tokai erzeugt werden, oszillieren auf ihrem unterirdischen Weg zum Kamiokande-Detektor anders als ihre Antiteilchen. Endgültigen Aufschluss wird aber erst die nächste Generation von Neutrino-Detektoren geben können.
Auch vom Quark-Gluon-Plasma gibt es Neues zu berichten: Forscher am Ionenbeschleuniger Relativistic Heavy Ion Collider haben diesen Materiezustand untersucht, wie er bei extrem hochenergetischen Teilchenkollisionen entsteht. Dabei konnten die Forscher die schnellsten Strudel überhaupt entdecken: Bis zu zehn Milliarden Billionen Umdrehungen in der Sekunde macht diese extrem dünnflüssige Materie. Und ein Elementarteilchen ist geschrumpft: Spektroskopische Präzisionsmessungen an normalem Wasserstoff bestätigen die vor einigen Jahren an myonischem Wasserstoff gemachte Radiusbestimmung des Protons. Alles deutet darauf hin, dass das Proton kleiner ist als der internationale Literaturwert. Auch hier werden kommende Messungen mit Spannung erwartet.
Abb.: Blick von unten in das GERDA-Experiment: Zu erkennen sind die Faserhülle des Flüssigargon-Vetos und der Kupferkopf, an dem die Aufhängung mit Germanium-Detektoren befestigt wird. (Bild: V. Wagner, GERDA)
Vor Kurzem stand ein großes Jubiläum für die Kernphysik an: Vor sechzig Jahren ging mit dem Forschungsreaktor München (FRM) der erste deutsche Reaktor in Betrieb. Dies war nicht nur die Geburtsstunde der deutschen Neutronenforschung sowie des Wissenschaftsstandorts Garching, sondern auch ein wichtiger Schritt zur Re-Internationalisierung der Forschung nach dem Ende des Nazi-Regimes. Neutronenstrahlung findet sich jedoch nicht nur in der Nähe von Brennstäben, sondern auch in der Atmosphäre. Wie eine japanische Forschergruppe nachweisen konnte, vermögen auch Blitze Kernreaktionen zu verursachen. Die Neutronen stammen gleichwohl nicht aus Fusionsprozessen, sondern aus photonuklearen Reaktionen.
Ein ungelöstes Problem, mit dem nicht nur die Betreiber von Atomkraftwerken, sondern – in deutlich kleinerem Umfang – auch die von Forschungsreaktoren zu kämpfen haben, ist die verantwortungsvolle langfristige Lagerung von Atommüll. Eine Möglichkeit, hochradioaktive Stoffe möglichst stabil und chemisch inert zu fixieren, besteht im Einschmelzen in Glaskokillen. Wie Simulationen zeigen, könnte es um die dauerhafte Beständigkeit dieser Kokillen allerdings weniger gut bestellt sein als erhofft. Radioaktive Strahlung könnte Quarzglas flüssig machen. Bis zur Endlagerung müssen Atommüll-Behälter aber erst einmal viele Jahre in einem Zwischenlager liegen. Zu dessen Überwachung bieten sich Neutrinodetektoren an. Diese könnten die Entwendung von radioaktivem Material oder eine größere Leckage nachweisen. Das ist nicht zuletzt zur Sicherstellung der Nichtverbreitung von atomwaffenfähigem Material wichtig, weshalb sich auch internationale Kontrollbehörden dafür interessieren.
Abb.: Der Krebsnebel – Überrest einer Supernova (Bild: ESO)
Der Krebsnebel ist eine der wichtigsten Quellen hochenergetischer Strahlung und mit einer Entfernung von rund 6300 Lichtjahren zugleich eines der am besten untersuchten astronomischen Objekte. Die vom Pulsar in seinem Zentrum erzeugte Strahlung warf bislang jedoch einige Fragen auf. Ihr Spektrum schien nur mit Hilfe mehrerer unabhängiger Populationen von Teilchen erklärbar zu sein. Neue Ansätze, die das Wechselspiel der verschiedenen Prozesse bei der Teilchenbeschleunigung berücksichtigen, können die beobachtete Strahlung aber doch mit nur einer Teilchenpopulation erklären. Ausbrüche hochenergetischer Gammastrahlen im Krebsnebel wiederum liegen wohl an Plasmablasen im Pulsarwind, die auf dem Weg zur Schockfront stark beschleunigt werden und ihre Energie als Synchrotronstrahlung abgeben.
Noch sehr viel energiereichere Strahlung misst das Pierre-Auger-Observatorium in der argentinischen Provinz Mendoza. Bei extrem hohen Energien zeichnet sich in diesen Daten eine Anisotropie ab: Die Vorzugsrichtung dieser Strahlung liegt nicht in Richtung des galaktischen Zentrums, stammt also vermutlich aus extragalaktischen Quellen. Bei anderen kosmischen Teilchen bleibt der Ursprung ebenfalls noch rätselhaft: Sowohl Satellitenexperimente wie Messungen an Bord der Internationalen Raumstation haben eine unerwartet große Menge an Positronen gefunden. Zwei als Urheber verdächtige Pulsare konnten nun von der Liste verdächtiger Quellen gestrichen werden, dunkle Materie hingegen noch nicht.
Auch die Suche nach dem neutrinolosen doppelten Betazerfall geht weiter. Dieser exotische Zerfall könnte ein entscheidender Hinweis auf die Natur der Neutrinos sein und bei der Beantwortung der Frage helfen, warum mehr Materie als Antimaterie im Universum zu finden ist. Bislang lassen sich jedoch nur obere Grenzen für die Zerfallswahrscheinlichkeit angeben. Der technische Fortschritt bei der Entwicklung extrem sensibler Detektoren ist allerdings beachtlich. So hat das Neutrino-Experiment GERDA im Untergrund-Labor von Gran Sasso praktisch sämtliche Störsignale eliminiert und kann nun ohne Hintergrund messen. Das Experiment XENON1T befindet sich ebenfalls tief unter dem Gran-Sasso-Gebirgsmassiv und nutzt die sehr gute Abschirmung vor der kosmischen Strahlung, um nach Wechselwirkungen gewöhnlicher Materie mit dunkler Materie zu suchen. Den Wissenschaftlern dort ist es ebenfalls gelungen, ihren Detektor fast komplett von störender Strahlung zu isolieren. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend und übertreffen in ihrer Empfindlichkeit alle früheren Messungen.
Abb.: Myonen offenbaren eine bisher verborgene Kammer in der Cheops-Pyramide. (Bild: ScanPyramids mission)
Kosmische Strahlung ist aber nicht immer nur lästig und verfälscht Messungen: Sie lässt sich auch ganz praktisch nutzen. Mit Hilfe von Myonen aus der Höhenstrahlung konnte ein gemischtes Team aus Physikern und Archäologen die Cheops-Pyramide durchleuchten. Dabei zeichnete sich überraschend ein dreißig Meter langer, bislang unbekannter Hohlraum ab, über dessen genaue Lage sich allerdings noch keine genaue Aussage machen lässt. Ein anderes Team aus Physikern und Geologen hat ebenfalls mit kosmischen Myonen den Gletscher auf dem Jungfraujoch vermessen und ist dabei auf markante Erosionsprozesse gestoßen.
Ultraschnelle atomare Prozesse sichtbar zu machen, ist ein besonders wichtiges Einsatzgebiet von Freie-Elektronen-Lasern. Dank einer neuen Technik ließ sich die Pulslänge der entstehenden Laserpulse nochmals verringern – bis in den Attosekundenbereich. Eine spezielle Ansteuerung der Kavitäten ermöglicht auch ohne größere apparative Modifikationen die Erzeugung harter und ultrakurzer Röntgenpulse. Es geht aber auch umgekehrt: Mit direkter Laserbeschleunigung lassen sich ultrakurze, relativistische Elektronenpulse erzeugen. Wissenschaftlern am Max-Born-Institut gelang dies mit extrem starken und fokussierten Laserpulsen.
Anstatt Zeit mit dem Schreiben von Anträgen für Messzeit an Großforschungseinrichtungen zu verbringen, würden viele Wissenschaftler sich lieber einen kleinen Beschleuniger auf den Labortisch stellen. Ein neuartiger Laser-Plasma-Elektronenbeschleuniger überzeugt nun mit hoher Wiederholungsrate und kurzer Pulsdauer. Wer es dennoch gerne ein bisschen größer hätte, muss künftig zumindest keine langen Wegstrecken mehr auf sich nehmen: In Hamburg ist mit dem European XFEL eine führende Röntgenlaserquelle entstanden und hat mittlerweile den Betrieb aufgenommen. Und das Berliner BESSY II wird zum variablen Pulslängenspeicherring BESSY VSR aufgerüstet und soll so künftig die Lücke zwischen Speicherringen wie PETRA III und Freie-Elektronen-Lasern schließen.
Dirk Eidemüller
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