Atomare Dynamik der nukleophilen Substitutionsreaktion
Detaillierte Untersuchung der Reaktionsdynamik eines aus neun Atomen bestehenden Komplexes.
Mit Laborexperimenten versucht ein internationales Forscherteam um Roland Wester von der Uni Innsbruck einen neuen Blick auf chemische Reaktionen zu werfen und deren Dynamiken besser zu erfassen. Reaktionen kleiner Moleküle werden heute schon sehr gut verstanden. Sobald mehr als vier Atome involviert sind, wird es sowohl für die Theorie als auch im Experiment schwierig, die Abläufe einer Reaktion im Detail zu beschreiben. Wester und sein Team haben jetzt ein einzigartiges Experiment gebaut, mit dem Moleküle mit Ionen zur Reaktion gebracht und beobachtet werden können. So ist es den Wissenschaftlern erstmals gelungen, die atomare Dynamik der nukleophilen Substitutionsreaktion exakt zu beschreiben.
Vor einigen Jahren untersuchte die Forschungsgruppe bereits den Wettstreit zweier chemischer Reaktionen an organischen Verbindungen. In einer Vakuumkammer brachten die Forscher diese Moleküle mit geladenen Teilchen aus der chemischen Gruppe der Halogene, wie Fluor, Iod oder Chlor, zur Kollision. Dabei zeigte sich erstmals durch direkte Beobachtung, dass bei größeren Molekülen die Eliminierungsreaktion die Überhand gewinnt und die Substitutionsreaktion irgendwann verschwindet.
Bisher noch nicht bekannt war, was in jenem Größenbereich passiert, wo beide Reaktionen ähnlich wichtig sind. Um dies zu untersuchen, waren weitere theoretische Arbeiten notwendig, die in den vergangenen Jahren von Forschern um Gábor Czakó an der Universität in Szeged, Ungarn, geleistet wurden. Sie haben eine Born-Oppenheimer-Potenzialfläche errechnet, mit der der Ablauf der chemischen Reaktion eines aus acht Atomen bestehenden Moleküls mit einem Halogen-Ion detailliert beschrieben werden kann. Beachtlich dabei ist, dass die untersuchte Reaktion in 21 Dimensionen abläuft. Die theoretisch ermittelte Potenziallandschaft gibt Auskunft, wie sich die einzelnen Atome während der chemischen Reaktion in diesem hochdimensionalen Raum bewegen können.
Daraus konnten Eduardo Carrascosa, Jennifer Meyer und Roland Wester von der Uni Innsbruck eine sehr präzise Vorhersage erstellen, in welcher räumlichen Richtung die Reaktionsprodukte in ihrem Experiment davonfliegen werden. Denn sie messen den Winkel und die Geschwindigkeit, mit der die Ionen auf einem Detektor auftreffen. „Und unsere Daten zeigen, dass wir genau das gemessen haben, was die Theorie ohne Kenntnis der experimentellen Daten berechnet hat“, so Wester. „Mit so vielen Atomen und damit so hochdimensional ist das bisher noch nicht gelungen.“
Damit haben die Wissenschaftler die chemische Reaktion, in der zwei unterschiedliche Reaktionsmechanismen ablaufen, theoretisch und experimentell umfassend beschrieben. Mit dieser Arbeit kommen die Physiker hinsichtlich der Zahl der beteiligten Atome für die detaillierte Untersuchung der Reaktionsdynamik in eine Region, die Anwendungen in vielen Bereichen komplexer chemischer Reaktionen ermöglicht.
U. Innsbruck / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
J. Meyer et al.: Atomistic dynamics of elimination and nucleophilic substitution disentangled for the F-+CH3CH2Cl reaction, Nat. Chem., online 9. August 2021; DOI: 10.1038/s41557-021-00753-8 - Molekulare Systeme (R. Wester), Institut für Ionenphysik und angewandte Physik, Universität Innsbruck, Österreich
- MTA-SZTE Lendület Computational Reaction Dynamics Research Group, Interdisciplinary Excellence Centre and Department of Physical Chemistry and Materials Science, University of Szeged, Szeged, Ungarn