22.10.2020 • AstronomieAstrophysik

Atomarer Wasserstoff zeigt Geschichte der Milchstraße

Astronomen präsentieren bislang detaillierteste Karte des Rohmaterials der Sternentstehung.

Eine internationales Team von Astronomen unter der Leitung von Juan Soler vom MPI für Astronomie hat ein komplexes Netzwerk aus Filamenten aus atomarem Wasserstoffgas gefunden, das die Milchstraße durchdringt. Durch die Anwendung von Techniken der maschinellen Bildverarbeitung auf Daten der THOR-Durchmusterung machten sie dieses Geflecht aus Gas sichtbar, das den bisher detail­liertesten Blick auf die Verteilung von atomarem Wasserstoff in der inneren Milchstraße bietet. Durch statistische Methoden und Simulationen zeigten sie, dass die Struktur einen Abdruck historischer Prozesse bewahrt hat, die durch die Rotation der galaktischen Scheibe und durch Einflüsse von alten Supernova-Explosionen hervor­gerufen wurden.

Abb.: Atomare Wasserstoff­emission eines Ausschnitts aus der...
Abb.: Atomare Wasserstoff­emission eines Ausschnitts aus der THOR-Durch­musterung (oben) und zugehörige faden­förmige Strukturen um das Magdalena-Filament (unten). Die Farben stellen die Emission bei drei Radial­geschwindig­keiten dar. (Bild: J. Soler et al., MPIA)

Wasserstoff ist der wichtigste Rohstoff zur Bildung neuer Sterne. Doch obwohl es das am häufigsten vorkommende chemische Element im Universum ist, ist die Frage noch offen, wie sich dieses Gas zu Wolken zusammen­setzt, aus denen schließlich Sterne entstehen. Soler und seine Kollegen verarbeiteten Daten der vom MPIA geleiteten THOR-Durchmusterung, die aus Beobachtungen mit dem Very Large Array in New Mexico stammen. Die Untersuchung ermöglicht die Erstellung von Karten der Gasverteilung in der inneren Region der Milchstraße mit der bisher höchsten räumlichen Auflösung. „Die neueste Ergänzung des THOR-Datensatzes ist unser Data Release 2, der den neutralen atomaren Wasserstoff mit einer Winkel­auflösung von vierzig Bogen­sekunden erfasst“, erklärt Henrik Beuther, der das THOR-Projekt am MPIA leitet.

„Wir haben die Spektrallinie des Wasserstoffs bei einer Wellenlänge von 21 Zentimetern verwendet“, erklärt Yuan Wang, der für die Verarbeitung der Daten verantwortlich war. „Diese Daten liefern gleichzeitig die Gasgeschwindigkeit in der Beobachtungs­richtung. Kombiniert mit einem Modell, das beschreibt, wie sich das Gas in der Milchstraßen­scheibe um ihr Zentrum dreht, können wir sogar Distanzen ableiten.“

Um die Verteilung des atomaren Wasserstoffs besser zu ermitteln, wandte Soler einen mathematischen Algorithmus an, der häufig in Anwendungen wie Texterkennung und Satelliten­bild­analyse eingesetzt wird. Das führte zur Entdeckung eines ausgedehnten und komplizierten Netzwerks von Filamenten aus Wasserstoff. Das Team fand heraus, dass die meisten von ihnen parallel zur Scheibe der Milchstraße verlaufen, einschließlich einer dreitausend Lichtjahre langen Wasserstoff-Spur, die Soler zu Ehren des längsten Flusses in Kolumbien, seinem Geburtsland, Magdalena nannte.

„Magdalena könnte das größte bekannte zusammen­hängende Objekt in der Milchstraße sein. In den letzten Jahren haben Astronomen viele molekulare Filamente untersucht, aber Maggie scheint rein atomar zu sein. Aufgrund ihrer günstigen Position in der Milchstraße konnten wir sie ausfindig machen“, bemerkt Jonas Syed, der ebenfalls zum THOR-Team gehört. Es war jedoch eine Ansammlung von vertikalen Filamenten, die die besondere Aufmerk­sam­keit der Forscher auf sich zog.

„Wir erwarten, dass die meisten Filamente parallel zur Ebene liegen und durch die Rotation gedehnt werden. Aber als wir viele vertikale Filamente um Regionen fanden, die für ihre hohe Stern­entstehungs­aktivität bekannt sind, wussten wir, dass wir auf der richtigen Spur waren. Irgendein Prozess muss Material von der galaktischen Ebene weggeblasen haben“, erklärt Soler. Massereiche Sterne tragen durch Winde, ionisierende Strahlung und durch Supernova-Explosionen große Energie­mengen in ihre Umgebung ein.

In der Vergangenheit haben Astronomen die Beobachtungen des atomaren Wasserstoffs genutzt, um die Hüllen um Supernova-Explosionen zu identifizieren, die bis zu ein paar Millionen Jahre alt sind. Die Schockwellen dieser Explosionen führen dazu, dass sich das diffuse und allgegen­wärtige Wasserstoffgas in dichteren Wolken anhäuft, von denen die Wissenschaftler annehmen, dass sie die ersten Schritte im Prozess der Sternentstehung sind. Doch dieser Fall ist anders. Da die meisten der vertikalen Fäden des atomaren Wasserstoffs in Regionen mit einer langen Geschichte von Stern­entstehung konzentriert erscheinen, in denen mehrere Generationen von Sternen und Supernova-Explosionen ihre Umgebung geformt haben, brachten die Forscher sie mit Ereignissen in Verbindung, die den bereits bekannten Hüllen voraus­gingen.

„Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Überreste vieler älterer Hüllen, die aufplatzten, als sie den Rand der galaktischen Scheibe erreichten, sich über Millionen von Jahren angesammelt haben und dank der Magnetfelder zusammen­gehalten wurden“, erläutert Soler. Das Team gelangte zu dieser Schluss­folgerung durch den Einsatz moderner numerischer Simulationen der Dynamik von Supernova-Explosionen, Magnetfeldern und galaktischen Strömungen, die von einer Forschungs­gruppe unter der Leitung von Rowan Smith am Jodrell Bank Centre for Astrophysics in Groß­britannien und Patrick Hennebelle am CEA/Saclay in Frankreich durchgeführt wurden.

Die Ergebnisse und Analyse­werkzeuge dieser Studie ermöglichen eine neue Verbindung zwischen den Beobachtungen und den physikalischen Prozessen, die zur Ansammlung von Gas führen, das der Entstehung neuer Sterne in der Milchstraße und anderen Galaxien vorausgeht. „Galaxien sind komplexe dynamische Systeme und man findet nur schwer neue Anhaltspunkte. Archäologen restaurieren Zivilisationen aus den Ruinen von Städten. Paläontologen setzen alte Ökosysteme aus Dinosaurier­knochen zusammen. Wir rekonstruieren die Geschichte der Milchstraße anhand der Wolken aus atomarem Wasserstoffgas“, so Soler.

MPIA / RK

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