30.10.2020

Außerordentlich schaumiges Kometeneis

Analyse des Aufprallortes von Philae offenbart Eigenschaften der Milliarden Jahre alten Eisstaubmischung auf „Tschuri“.

Viereinhalb Milliarden Jahre altes Eis ist fluffiger noch als der Milchschaum auf einem Cappuccino. Nach Jahren der Detektiv­arbeit haben europäische Wissen­schaftler der ESA-Mission Rosetta jetzt auf dem Kometen Churyumov-Gerasimenko die Stelle finden können, an der das Lande­modul Philae am 12. November 2014, überwacht aus dem Philae-Kontrollzentrum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), seinen zweiten und vorletzten Boden­kontakt hatte, ehe es dreißig Meter weiter endgültig zum Stillstand kam. Dabei hinterließ Philae Spuren: Die Sonde drückte sich mit ihrer Oberseite und dem Gehäuse für den Probenbohrer in den eisigen Spalt eines schwarzen, von kohlenstoff­haltigem Staub bedeckten Brockens. So kratzte Philae den Brocken auf und legte vor der Sonnen­strahlung geschütztes Eis aus der Entstehungs­zeit des Kometen frei. Die blanke, helle Eisfläche, deren Umriss ein wenig an einen Totenschädel erinnert, verriet nun die Kontaktstelle.
 

Abb.: Philaes Weg über den Kometen „Tschuri“ (Bild: ESA / Rosetta / MPS...
Abb.: Philaes Weg über den Kometen „Tschuri“ (Bild: ESA / Rosetta / MPS for OSIRIS Team / MPS / UPD / LAM / IAA / SSO / INTA / UPM / DASP / IDA)

Bisher waren die Stelle des Erstkontakts, der Punkt einer Kollision nach dem Wieder­abheben und der finale Landeplatz bekannt, an dem Philae nach über zwei Stunden zur Ruhe kam und gegen Missionsende 2016 auch gefunden wurde. „Nun kennen wir endlich den genauen Ort, wo Philae zum zweiten Mal den Kometen berührte. Damit können wir die Flugbahn des Landers vollständig rekonstruieren und prägnante wissenschaftliche Ergebnisse aus den Telemetrie­daten sowie Messungen einiger während des Landevorgangs angeschalteter Mess­instrumente ableiten“, erklärt Jean-Baptiste Vincent vom DLR-Institut für Planeten­forschung 

„Philae hatte uns noch ein allerletztes Rätsel aufgegeben ”, benennt Laurence O’Rourke von der Europäischen Weltraum­organisation ESA die Motivation hinter der mehrjährigen Suche nach ‚TD2‘, Touchdown-Punkt 2. „Es war sehr wichtig, den Landeplatz zu identifizieren, denn die an Philae angebrachten Sensoren zeigten an, dass der Lander sich in die Oberfläche hinein­gegraben und so höchstwahrscheinlich das darunter liegende, urzeitliche Eis freigelegt hatte.“ Über die vergangenen Jahre wurde die Stelle in den zahlreichen Bildern und Daten von Philaes Landegebiet wie die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen gesucht.

Immer wieder suchten die Wissenschaftler in den hoch aufgelösten Aufnahmen der Osiris-Kamera, einem Instrument des Max-Planck-Instituts für Sonnensystem­forschung (MPS) in Göttingen auf dem Rosetta-Orbiter, nach Stellen von blankem Eis in der vermuteten Region – lange Zeit ohne Erfolg. Erst die Auswertung von Messungen mit dem Magnetometer Romap, das unter der Leitung der Technischen Universität Braunschweig für Philae gebaut wurde, brachte die Wissenschaftler auf die richtige Spur. Das Team untersuchte in den Daten auftretende Änderungen, als sich der 48 Zentimeter vom Lander abstehende Magnetometer­ausleger beim Treffen auf die Oberfläche bewegte – also weggebogen wurde. Dabei ergab sich ein charakteristisches Muster in den Romap-Daten, das zeigte wie sich der Ausleger relativ zu Philae bewegte. Das ermöglichte es den Forschern abzuschätzen, wie lange die Sonde in das Eis eingedrungen war. Die Daten von Romap wurden mit denen des RPC-Magneto­meters auf Rosetta korreliert, um die genaue Orientierung von Philae zu bestimmen.

Die Analyse der Daten ergab, dass Philae fast zwei volle Minuten – in dieser Umgebung mit winziger Gravitation ist das nicht ungewöhnlich – an der zweiten Boden­kontaktstelle verbracht hatte und dabei mindestens vier verschiedene Oberflächen­kontakte hatte, während die Sonde durch die zerklüftete Landschaft „pflügte“. Ein besonders bemerkenswerter Abdruck, der in den Bildern sichtbar wurde, entstand, als die Oberseite von Philae an der Seite einer offenen Spalte 25 Zentimeter in das Eis sank und dort erkennbare Spuren des Bohrturms und der Oberseite hinterließ. Die Spitzen in den Magnetfelddaten, die sich aus der Auslegerbewegung ergaben, zeigten, dass Philae drei Sekunden brauchte, um diese spezielle Delle zu erzeugen.

Die Romap-Daten halfen, diese Stelle mit der eisgefüllten, hellen offenen Spalte in Osiris-Aufnahmen zu entdecken. Von oben betrachtet erinnerte ihr Anblick die Forscher an einen Toten­schädel, und so tauften sie die Kontakt­stelle „Schädeldecken-Grat. Das „rechte Auge“ des Schädels entstand, als Philaes Oberseite den Kometen­staub hier zusammen­presste, während Philae wie eine Wind­mühle durch den Spalt zwischen den staubbedeckten Eisblöcken kratzte, um schließlich wieder abzuheben und die letzten wenigen Meter bis zum endgültigen Ruheort zurückzulegen. „In den Daten sahen wir damals, dass Philae mehrmals Boden­kontakt hatte und letztlich in einer schlecht beleuchteten Stelle gelandet ist. Wir kannten auch aus Consert-Radar­messungen den ungefähren endgültigen Landeplatz. Das genaue Szenario der Philae-Trajektorie und die exakten Punkte mit Boden­kontakt konnten jedoch nicht so schnell interpretiert werden“, erinnert sich Philae-Projektleiter Stephan Ulamec vom DLR.

Die Auswertung der Osiris-Fotos und mit dem abbildenden Spektrometer Virtis bestätigten, dass das helle Material pures Wassereis ist, das durch den Philae-Kontakt auf einer Fläche von 3,5 Quadratmetern exponiert wurde. Während dieses Kontakts lag die Region noch im Schatten. Erst Monate später fiel Sonnenlicht darauf, so dass das Eis immer noch hell in der Sonne glänzte und kaum von der Weltraum­umgebung verwittert war und nachdunkelte, lediglich das Eis anderer flüchtiger Stoffe wie Kohlen­monoxid oder -dioxid verdampfte.

Ist diese Rekonstruktion der Ereignisse allein schon eine anspruchsvolle Detektiv­arbeit, bietet diese erste direkte Messung der Konsistenz von Kometeneis vor allem auch wichtige Erkenntnisse: Die Parameter des Boden­kontakts zeigten, dass diese Milliarden Jahre alte Eisstaubmischung außer­ordentlich weich ist: Sie ist poröser als der Schaum auf einem Cappuccino, dem Schaum in der Badewanne oder in den Schaum­kronen von an die Küste auslaufenden Wellen. „Die mechanische Spannung, die das Kometeneis in diesem von Staub bedeckten Brocken zusammenhält, beträgt gerade einmal zwölf Pascal. Das ist nicht viel mehr als ‚nichts‘“, erläutert Jean-Baptiste Vincent, der sich in der Studie mit der Druck- und Zugfestigkeit von primitivem Eis beschäftigt, das in Kometen seit vier­einhalb Milliarden Jahren wie in einer kosmischen Tief­kühltruhe als Zeugnis der frühesten Stunden des Sonnen­systems aufbewahrt ist.

Die Untersuchung ermöglichte auch eine Schätzung der Porosität des Felsens, der von Philae touchiert wurde: Etwa 75 Prozent, also drei Viertel des Inneren, besteht aus Hohlräumen. Die auf den Bilder allgegenwärtigen Fels­brocken sind also eher mit Styropor­felsen in einer Fantasie­landschaft im Film­studio vergleichbar als mit echten, harten, massiven Felsen. An einer anderen Stelle bewegte sich ein in mehreren Fotos festgehaltener, sechs Meter großer Block, durch den Gasdruck verdampfenden Kometen­eises sogar hangaufwärts.

Diese Beobachtungen bestätigen ein Ergebnis der Rosetta-Orbiter­mission, die einen ähnlichen Zahlenwert für den Anteil von Hohl­räumen ermittelte und zeigte, dass das Innere von 67P/Churyumov-Gerasimenko bis auf eine Block­größe von einem Meter homogen sein dürfte. Das zieht die Schluss­folgerung nach sich, dass die Fels­brocken an der Oberfläche den Gesamt­zustand des Kometen­inneren darstellen, als er sich vor etwa 4,5 Milliarden Jahren gebildet hat. Das Ergebnis ist nicht nur wissenschaftlich für die Charakterisierung von Kometen, der zusammen mit den Asteroiden ursprünglichsten Körper des Sonnensystems, relevant, sondern ermöglicht auch Abschätzungen für zukünftige Kometen­missionen, bei denen auf einem dieser Schweifsterne aufgesetzt und Proben­material für die Rück­führung zu Erde gewonnen werden soll, was gegenwärtig in Überlegung ist.

Philae fiel mit der Geschwindigkeit eines Fußgängers in Richtung des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko. Wie Bilder der DLR-Kamera ROLIS später zeigten, traf die etwa kubik­metergroße Landesonde die vorgesehene Landestelle Agilkia nahezu perfekt. Allerdings konnte sich Philae nicht auf „Tschuri“ verankern, weil die dafür vorgesehenen Anker­harpunen nicht zündeten. Da der Komet nur etwa ein Hundert­tausendstel der Anziehungs­kraft im Vergleich zur Erde an ihrer Oberfläche hat, prallte Philae vom Kometen ab, erhob sich bis in einen Kilometer Höhe und schwebte über die Region Hatmehit auf dem kleineren der beiden Kometenhalbkörper. Nach über zwei Stunden meldete sich Philae von Tschuri: Die während der beiden Stunden zu Rosetta übertragenen Daten zeigten, dass die Sonde nach ihrem turbulenten Hüpfflug, einer unsanften Kollision mit einer Geländekante und zwei weiteren Boden­kontakten zur Ruhe gekommen war. Wenig später konnte Philae auch Bilder des Abydos getauften endgültigen Landeplatzes via Rosetta zur Erde funken.

Aus diesen ging schnell hervor, dass der Lander nun nicht wie geplant an einer günstigen Stelle mit ausreichend Sonnenlicht stand. Für das Team im DLR-Kontrollraum fing nach der unerwartet verlaufenen Landung die Arbeit erst richtig an: Fast sechzig Stunden betrieben sie den Lander, kommandierten seine zehn Instrumente an Bord und drehten ihn am Ende auch noch etwas in Richtung Sonnen­strahlen. Dennoch ging der Strom der Primärbatterie zur Neige, weil zu wenig Strom produziert werden konnte. Die Akkus konnten nicht ausreichend aufladen, da die Sonne den Lander an jedem 12,4-Stunden-Kometentag nur für knapp anderthalb Stunden beschien. Tatsächlich rätselte das vielhundert­köpfige Rosetta-Team 22 Monate lang, wo denn Philae tatsächlich stand: Erst eine Nahaufnahme der OSIRIS-Kamera, wenige Wochen vor dem Missionsende am 2. September 2016 aufgenommen, zeigte, wie Philae in einer Art Felsspalte unter einem das Sonnenlicht abschirmenden Überhang aufrecht festgeklemmt war. Zum Missions­ende wurde die Raumsonde Rosetta am 30. September 2016 ebenfalls auf Churyumov-Gerasimenko in einem letzten Manöver hart abgesetzt.

DLR / DE
 

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