Birnenförmige Atomkerne gesichtet
Radium-224-Kerne zeigen bei Kollisionsexperimenten eine deutliche Oktupol-Deformation.
Da Atomkerne komplizierte Vielteilchensysteme sind, gibt es bei der Berechnung der Kerneigenschaften noch immer große Herausforderungen, insbesondere für Kerne mit vielen Nukleonen. Die theoretische Vorhersage, bestimmte schwere und instabile Kerne zeigten Oktupol-Deformationen und seien deshalb birnenförmig, konnte jetzt durch Kollisionsexperimente bestätigt werden. Dies könnte einen Blick auf die Physik jenseits des Standardmodells eröffnen.
Abb.: Während die Gestalt des Radon-220-Kerns um eine Birnenform oszilliert, hat der Ra-224-Kern die statische Form einer Birne. Beide Kerne sind um die z-Achse drehsymmetrisch. (Bild: L. P. Gaffney et al.)
Die Symmetrie der Atome erlaubt weitreichende Einblicke in die zugrunde liegenden Kräfte. So ist die Elektronenhülle eines Atoms im Grundzustand kugelsymmetrisch, da sich die Elektronen im Coulomb-Feld der (nahezu punktförmigen) Kernladung bewegen, in dem keine Raumrichtung ausgezeichnet ist. Hingegen sind nur die doppelt-magischen Atomkerne im Grundzustand kugelförmig, die sich durch vollständig gefüllte Protonen- und Neutronenschalen auszeichnen.
Regt man einen doppelt-magischen Kern an oder fügt ihm Nukleonen hinzu, so wird er deformiert und entweder in die Länge gezogen oder platt gedrückt, sodass seine Form einem Rugbyball oder einem Diskus ähnelt. Solch eine Quadrupol-Deformation hat immerhin noch Rotations- und Spiegelungssymmetrie, was sich am Gammastrahlenspektrum der erlaubten Übergänge zwischen den verschiedenen Anregungszuständen des Kerns ablesen lässt.
Theoretischen Vorhersagen zufolge sollte die Spiegelungssymmetrie der Quadrupol-Deformation für bestimmte Kerne verlorengehen und er nimmt die Form einer Birne an. In diesem Fall liegt eine Oktupol-Deformation vor, die sich ebenfalls im Gamma-Spektrum bemerkbar macht. Die Kerne, an denen man die Folgen der Oktupol-Deformation am deutlichsten zu sehen hofft, sind jedoch instabil und kommen in der Natur nicht vor.
Zwei aussichtsreiche Kandidaten für „birnenförmige“ Kerne sind demnach Radon-220 und Radium-224. Ein internationales Forscherteam um Peter Butler von der University of Liverpool hat diese beiden Kerne bei Kollisionsexperimenten mit REX-ISOLDE (Radioactive Beam Experiment at ISOLDE) am CERN jetzt genauer unter die Lupe genommen. Dazu beschleunigte es Protonen mit dem Proton Synchrotron Booster auf 1,4 GeV und schoss sie auf ein Target aus Urankarbid.
Die bei der Kollision der Protonen mit den Urankernen entstandenen Rn-220- und Ra-224-Ionen prallten, von REX-ISOLDE auf knapp drei Megaelektronenvolt pro Nukleon gebracht, auf ein Sekundärtarget aus Nickel, Kadmium oder Zinn. Die verschiedenen Targets regten die Kerne auf unterschiedliche Weise elektromagnetisch an. Die Anregung gaben die Kerne anschließend in Form von Gammastrahlung ab, die MINIBALL mit seinen 24 Germaniumdetektoren registrierte. Weitere Detektoren bestimmten die Flugrichtungen der Kerne nach dem Zusammenprall.
Die Gammaspektren zeigten sowohl Zustände mit positiver Parität, die durch mehrfache elektrische Quadrupol-Anregung besetzt worden waren, als auch Zustände mit negativer Parität, bevölkert durch wiederholte elektrische Oktupol-Anregung. Aus den gemessenen Strahlungsfrequenzen und Flugrichtungen sowie aus schon bekannten kernspektroskopischen Daten konnten die Forscher mit Hilfe eines Auswertungsprogramms eine Reihe von charakteristischen Größen bestimmen. Diese beschreiben die elektrischen Dipol-, Quadrupol- und Oktupol-Übergänge zwischen den verschiedenen Anregungszuständen der Rn-220- und Ra-224-Kerne beim Zusammenprall mit dem Target.
Diese charakteristischen Größen seien ein klares Indiz für eine deformierte elektrische Ladungsverteilung der Kerne. Doch während der Rn-220-Kern zwischen einer Birnenform und einer symmetrischeren Form oszilliert, weist der Ra-224-Kern eine statische Birnenform auf. Diese Ergebnisse sind in Einklang mit einer Theorie, die für den Ra-226-Kern eine noch größere Quadrupol-Deformation, also eine noch stärker ausgeprägte Birnenform vorhersagt.
Der Ra-224-Kern könnte dank seiner Oktupol-Deformation und anderer Eigenschaften ein empfindlicher Detektor für das Auftreten des vermuteten permanenten elektrischen Dipols sein. Besitzt ein Elementarteilchen neben seinem Spin auch noch solch einen elektrischen Dipol, so verletzt es die Zeitumkehrinvarianz T, da sich bei Zeitumkehr der Spin umdreht, der elektrische Dipol jedoch nicht. Da aber die CPT-Invarianz erfüllt sein muss, muss die Invarianz unter Ladungsumkehr C und Spiegelung P ebenfalls verletzt sein. Das Teilchen würde sich also anders verhalten als sein Antiteilchen. Dies gäbe eine Erklärung dafür, wieso im Universum fast nur Materie vorkommt und kaum Antimaterie. Die CP-Verletzung durch die schwache Wechselwirkung reicht dafür nämlich nicht aus.
Dem Standardmodell zufolge kann im Atomkern kein permanenter elektrischer Dipol auftreten – und tatsächlich gab es bei bisherigen Experimenten, etwa mit Quecksilber-199, auch noch keine Anzeichen dafür. Weitergehende Theorien sagen indes einen permanenten elektrischen Dipol vorher. Die Oktupol-Deformation des Ra-224-Kern würde die Wirkung des permanenten elektrischen Dipols hundert- bis tausendfach verstärken und damit seinen Nachweis wesentlich erleichtern.
Rainer Scharf
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