Das Gleiten der Gletscher
Neues Modell bildet Fließeigenschaften von Gletschern realitätsnah ab.
Die Gletscher in den Randregionen Grönlands und der Antarktis haben ihr Fließtempo in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht. Sie transportieren mehr Eis in die angrenzenden Ozeane und tragen damit zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Wissenschaftler weltweit versuchen mit Computermodellen vorherzusagen, wie sich künftig der Klimawandel auf Gletscher und Meeresspiegel auswirken wird. Je genauer die Modelle die physikalischen Vorgänge beim Fließen der Gletscher nachvollziehen können, desto zuverlässiger sind die Ergebnisse der Computersimulationen.
Doch bislang gibt es einige offene Fragen. So ist etwa nicht genau bekannt, wie sich die Unebenheiten des Felsbettes auf die Reibung der darüber liegenden Eisschichten und damit auf das Fließen des Gletschers auswirken. Bo Persson vom Jülicher Peter Grünberg Institut hat nun einen Beitrag zum grundlegenden Verständnis des Gleitvorgangs geliefert. Dabei nutzte er eine Theorie der Kontaktmechanik, die er selbst entwickelt und bereits erfolgreich angewendet hat. Zugleich berücksichtigte er Arbeiten anderer Wissenschaftler aus den 1970er Jahren, die sich beispielsweise mit dem Phänomen der Regelation beschäftigt hatten: Aufgrund seiner besonderen chemischen Struktur kann Eis schmelzen, wenn sich der Druck darauf erhöht und wieder gefrieren, wenn er abnimmt.
Besonders bedeutsam an dem neuen mathematischen Modell: „Es zeigt, dass Hohlräume entstehen, wenn Gletscher mit typischer Geschwindigkeit über den Untergrund gleiten“, so Persson. „Bei Gletschern, die 1000 Meter und höher sind, wie etwa an den Polkappen, liegt die Temperatur des Eises am Gletscherboden am Schmelzpunkt. Grund dafür ist die geothermische Wärme aus dem Erdinneren, die nicht nach oben hin abgeleitet werden kann – das Eis ist zu dick. Dadurch füllen sich die Hohlräume mit Wasser.
Das bildet nicht nur eine Art Schmierfilm zwischen Gletscher und Untergrund, wodurch sich die Reibung verringert, es presst gegen die darüber liegenden Eisschichten und trägt so einen Teil der Gletschermasse mit: Der Gletscher gleitet schneller.“ Die Gleitgeschwindigkeit, die der Forscher mit seinem Modell berechnet hat, entspricht den Werten, die man in der Natur beobachtet. Das ist ein wichtiges Indiz dafür, dass Perssons Modell die Realität gut wiedergibt. Prinzipiell ist die Grenzfläche zwischen Eis und Felsboden für die Forschung nur schwer zugänglich, da der Gletscher darüber liegt.
Persson stieß bei einem Workshop des Alfred-Wegener-Instituts, des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung, auf die Fragestellungen der Glaziologen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Reibung und verwandten Phänomenen, allerdings zunächst bei ganz anderen Objekten: Es ging um die Wechselwirkungen zwischen Reifen und Straßen. Später erforschte Persson unter anderem die Physik beim Schmieren von Gummidichtungen oder die Reibung auf Eis. Erst vor kurzem hat er die Gleitreibung eines Fingers auf haptischen Touchscreens theoretisch beschrieben. Wesentlich ist stets, dass man beim Kontakt zwischen zwei Objekten die Rauigkeit der jeweiligen Flächen auf verschiedenen Längenskalen berücksichtigen muss, vom tausendstel Millimeter bis zum Meter.
Bei den Gletschern ist die Rauigkeit des Felsuntergrundes beispielsweise für das Phänomen der Regelation verantwortlich: Das wechselnde Schmelzen und Frieren des Eises beruht auf lokalen Druckschwankungen, die wiederum durch die Bodenunebenheiten hervorgerufen werden. Persson erläutert das Phänomen anhand einer Bodenwelle: „Der sich bewegende Gletscher drückt das Eis von einer Seite gegen diese Bodenwelle. Bei höherem Druck genügt jedoch schon eine geringere Temperatur als üblich, um die Kristallstruktur des Eises aufzubrechen und es somit zum Schmelzen zu bringen.“ Auf der anderen Seite der Bodenwelle sei der Druck des Gletschers dagegen herabgesetzt und der Schmelzpunkt des Eises erhöhe sich.
FZJ / DE